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Estés: Tiefenpsychologie für Frauen und Lebensläufe in Märchen

Das Erkennen negativer Lebenssituationen - die Befreiung vom Terror-Mann oder von Terror-Müttern. Märchenbeispiele

8.Kapitel: Selbsterhaltung (auf dem Weg zur Einweihung): Fallen erkennen

von Michael Palomino (1994 / 2004)

Zusammenfassung aus: Clarissa Pinkola Estés: Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte. Wilhelm Heyne Verlag, München, 1992

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8.Kapitel: Selbsterhaltung (auf dem Weg zur Einweihung): Fallen, Käfige und giftige Köder erkennen und an ihnen vorbeigehen lernen

Literaturbeispiel: Märchen: Die roten Schuhe (die Frauen sollen die Erotik beherrschen lernen)


Die (seelisch) ausgehungerte Frau

Die Menschen kommen mit intakten Urinstinkten zur Welt. Diese werden in der Erziehung verstümmelt, v.a. bei den Mädchen. Diese wollen die erwachsene Frau wieder haben. Mit diesem Ziel vor Augen wird der Weg zur Einweihung begonnen. Auf diesem Weg liegen viele Fallen und Verlockungen (wie beim Hund von Manawee).

Literaturbeispiel: Märchen: Die roten Schuhe

Ein Waisenmädchen geht in Lumpen und barfuss, sammelt rote Fetzen, macht sich selber Schuhe, geht allein durch die Welt. Eines Tages sieht es an der Strasse eine goldene Kutsche vorbeifahren. Die alte Frau in der Kutsche verspricht dem Waisenkind, es wie ihre eigene Tochter zu behandeln, wenn sie mitkäme. Das Waisenkind geht mit. Bei der Frau zu Hause wird es gebadet, gekämmt, bekommt weisse Unterwäsche, ein Kleid aus guter Wolle, weisse Strümpfe, schwarze Lackschuhe. Das Mädchen fragt aber nach seinen roten Schuhen, denn rote Schuhe hat das Mädchen besonders gern. Da muss die Frau gestehen, sie hat die roten Schuhe zusammen mit den Lumpen zusammen verbrannt. Das Mädchen wird sehr traurig.

Das Leben bei der alten Frau ist kein Leben mehr. Das Mädchen muss den ganzen Tag still sitzen, darf beim Spazierengehen nicht hüpfen, und darf nur sprechen, wenn es etwas gefragt wird. Es wächst im Herzen des Mädchens ein heimliches Feuer heran. die Sehnsucht nach den alten, roten Schuhen wird immer grösser. Sie kauft sich heimlich neue rote Schuhe.

Zur Konfirmation ist die alte Frau bereits farbenblind. Das Mädchen zieht sich zur Konfirmation leuchtend rote Schuhe an, ohne dass die Alte es merkt. Bei der Konfirmation starren alle auf die roten Schuhe. Am Abend hat es die Alte aber erzählt bekommen und verbietet dem Mädchen, diese Schuhe anzuziehen.

Am nächsten Sonntag in der Kirche hat das Mädchen wieder die roten Schuhe an. Ein Soldat mit krankem Arm am Kircheneingang mit rotem Bart staubt ihr die Schuhe sogar ab. Es kitzelt. Er sagt: "Behalte sie an, bis der Tanz beginnt" und zwinkert dabei. In der Kirche sind alle empört. Das Mädchen ist in die Schuhe selbst verliebt. Der Soldat am Ausgang: "Oh, was für hübsche Tanzschuhe du an den Füssen hast!" - Das Mädchen dreht eine Pirouette, dann kann sie mit Tanzen nicht mehr aufhören. Sie tanzt durchs Blumenbeet, über den Friedhof, über Wiesen, gehüpft, gesteppt etc.

Ein Kutscher holt das Mädchen ein. Die Schuhe tanzen immer noch in der Luft. Der Kutscher zieht mit der Alten zusammen dem Mädchen die Schuhe ab. Erst da beruhigen sich die Kinderfüsse.

Zu Hause legt die Alte die roten Schuhe auf ein hohes Hutfach im Schrank, erneutes Verbot, die Schuhe anzurühren. Aber das Mädchen sehnt sich noch immer nach den Schuhen.

Da wird die Alte bettlägerig. Einmal sind alle Ärzte weg. Das Mädchen holt sich die Schuhe, zieht sie an, kann nicht mehr aufhören zu tanzen, wird davon berauscht und tanzt auf der Dorfstrasse. Die Schuhe bestimmen die Richtung. Es wird für das Mädchen unheimlich. Es geht in den Wald, am Soldaten vorbei, der sagt: "Ja schau nur, was die schönen Tanzschuhe alles treiben." - Das Mädchen will die Schuhe abstreifen, hat Angst, kann sie nicht ausziehen. Die Schuhe tanzen mit dem Mädchen durch Wald, Flur, über Berge, Tal, Regen, Schnee, Sonnenschein, durch die Nächte.


Beim Tanz in einem Kirchhof sagt ein Geist: "Du sollst in den roten Schuhen tanzen, bis deine Haut in Fetzen von den müden Knochen hängt, bis nichts mehr von dir übrig ist, nur deine tanzenden Innereien." Sie solle als Gespenst von Tür zu Tür tanzen, so dass die Leute sich vor Grauen abwenden werden, die Türen zumachen. Das fleht das Mädchen vergebens um Hilfe. Der Tanz geht weiter, am einstigen Heim vorbei.

Da stirbt die Alte. Der Tanz geht weiter bis zum Scharfrichter. Das Mädchen bittet, dass dieser ihr die Schuhe abhacke, um sie vom Fluch zu erlösen. Er machte es auch. Da tanzen die Schuhe allein weiter. Das Mädchen hat keine Füsse mehr, ist heimatlos, wird Dienstmagd, und sehnt sich nie mehr nach roten Schuhen.

Die geistige Wandlung - die seelisch ausgehungerte Frau

Es geht um geistige Wandlung. Das Ende des Märchens ist grausam. Das Märchen vermittelt eine grosse Wahrheit. Wer ohne Vernunft lebt, wird nur mit einem Horror vor der Unvernunft befreit werden.
Eine ausgehungerte Frau kann auf alle möglichen Irrwege geraten, solange sie ahnungslos ist und keine eindringliche Warnung erhält. Die Frau bleibt von den Urinstinkten abgeschnitten und flüchtet sich in ein Suchtverhalten, das sie unter Umständen vollkommen beherrscht. Es ist Ersatzbefriedigung mit sinnloser Vergeudung von Zeit und Talent, es ist Heisshunger nach innerlicher Befriedigung. So "tanzen" solche Frauen "aus der Reihe" [und Männer noch viel mehr]. Die Betroffenen sind völlig ausser Kontrolle, bis sie vor dem Scharfrichter landen [bei Kettenrauchern z.B. die Amputation eines Beines oder eine Lungenmaschine].

Der erste Verlust: die handgemachten Schuhe - das Finden zum Verstand

Szene im Märchen:
Die handgemachten roten Schuhe werden ein Häuflein Asche. Das Liebest auf der Welt ist verloren. Das Mädchen tanzt eigenwillig mit roten Schuhen bis vor den Scharfrichter.

Deutung:
Mit den roten Schuhen ist die Vitalität verloren. Das Mädchen ist aufgefordert, das instinktive Gespür für richtig oder falsch zu entwickeln. Das Mädchen reagiert aber mit Kompensation, mit Überkompensation, mit allmählichem Abgleiten in Süchte und Zwänge und findet keinen eigenen Willen, gegen das Zwangsverhalten anzugehen.

Szene im Märchen:
Das ganze Märchen ist die Darstellung des Kampfes einer Frau mit dem Dämon des Zwangsverhaltens.
Deutung:
Allein der Kampf ist schon heldenhaft, ob innerer oder äusserer Dämon existiert. Es geht um Arbeit am urinnersten Wesensgrund.

Szene: Abhacken der Füsse mit den Schuhen

Deutung:
Erst durch die höllischen Qualen und mit Selbstverstümmelung, die einem zum Stillstand bringt, findet die Betroffene den Verstand. Erst so können die leidenschaftlichen Triebe mit der Weisheit des Gleichgewichts verbunden werden. Am Höhepunkt aller Qual ist die Frau auch in Realität "fusslos", ohne seelischen Boden.

Das Märchen zeigt auf, dass auf ein Ende einer Lebensphase eine neue folgt, eine neue Gelegenheit für ein selbst geschustertes Leben. Man soll also nicht auf die schlechte Erfahrung wütend sein, bei der man versagt hat, sondern froh sein, dass man angehalten wurde.


Die handgemachten, roten Schuhe

waren ein Gefühl des Reichtums, denn zuerst war das Mädchen barfuss gelaufen und hatte sich dann die Schuhe selbst gemacht in ihrer Kreativität. Es ist ein erstes Anzeichen, sich selbst ein eigenes Leben zurechtzubasteln. Das Anfertigen der Schuhe ist die Darstellung des Naturtalents.

Das Märchen im Kontext: Früher trugen nur die Reichen Schuhe

Früher trugen nur die Herrscher Schuhe. Sklaven gingen barfuss. In Nordeuropa sind Schuhe fürs überleben wichtig. Also verliert das Mädchen mit seinen Schuhen auch den Übelebensschutz, das Symbol für Bewegungsfreiheit. Mit den selbst gemachten Schuhen hat sich das Mädchen symbolisch vom Sklavendasein befreit. Mit den neuen Schuhen hat sich das Mädchen neue Hoffnung gegeben und ihren Stand verbessert. Das Rot steht für Lebenslust. Das Mädchen will wieder lebendig sein, zeigt dafür auch Opferbereitschaft. In den Schuhen verwirklicht das Mädchen ihren instinktiven Schönheitssinn des Formgefühls. Sie fühlt sich wie eine kleine Königin und stellt Anspruch auf ihre Entfaltungsmöglichkeiten.

Normalerweise kommt ein Element zur Blüte oder kommt ein Verzicht zustande, um eine andere Sache dafür besser vollbringen zu können. Probleme kommen aber auf, wenn der Verzicht ein Verzicht auf ein seelisches Element bedeutet mit einem seelischen Entwicklungsstillstand als Folge.

Der normale Entwicklungsweg wäre, dass das Kind sich irgendwann ein zweites Paar Schuhe machen würde, immer schönere, immer mit grösserer Genugtuung, mit Befriedigung des instinktiven Seinszustandes.

Die verschiedenen Farben Rot - verpuffte Energie mit Triebhaftigkeit

Die Farbe Rot bedeutet in diesem Fall aber die Farbe des Blutverlusts, bedeutet nicht die vollblütige Lebendigkeit. Es entsteht ein seelischer Stillstand, der Heisshunger nach etwas Vergleichbarem erzeugt. Folge ist die Sucht nach dem ähnlichen Rot, das aber das Rot der rasch verbrauchten Erregung ist, der Triebhaftigkeit ohne Herz. Das innere Feuer verpufft dabei sinnlos. Die Lebenssubstanz wird dabei immer irrwitziger.

Die Fallen im Entwicklungsweg

Die goldene Kutsche
ist Symbol für jede Art von Transportmittel, ist Symbol für einen "goldenen Käfig". Das Leben wird eine Art Gefängnis, obwohl es leichter wird.

Deutung:
Vielfach wird in einen "goldenen Käfig" geheiratet, die falsche Person, aber mit viel Geld. Das Leben geht vordergründig leichter, auch wenn es keine Freude macht. Das Ego mit seinem Wunsch, es "leichter" zu haben im Leben, hat sich durchgesetzt um den Preis der seelischen Freiheit.

Das Mädchen im Märchen wird im Haus der Alten seelisch ausgehungert mit Verboten gegen alle Lebenslust oder Befriedigung. Alles "unziemliche" Verlangen wird verboten. Das Mädchen muss die Seele aufgeben.

Deutung:
Oft verschieben die Frauen das Ausleben des Lebens aus finanziellen Gründen auf später. So wird das Leben entwertet.

Die vertrocknete Alte - die Forderung nach Anpassung - das richtige Kollektiv finden

Szene im Märchen:
Die vertrocknete Alte bestimmt das Leben im goldenen Käfig, bestimmt die Wertvorstellungen des Mädchens usw. Es entsteht für das Mädchen die seelische Zwangsjacke.

Deutung:
Die vertrocknete Alte entspricht dabei gar nicht dem Typ der normal entwickelten alten Frau, die Würde, Weisheit, Tradition, Lebenserfahrung und Herzensgüte mit etwas Humor weitergeben kann, eventuell mit etwas barscher Geradlinigkeit und neckischer Verspieltheit. Die vertrocknete Alte stellt den Typ der verhindert entwickelten alten Frau dar: seelisch erkaltet, die Psyche steif und niedergewalzt. Dasselbe wiederholt die Alte nun mit dem Mädchen: Ersticken der Seele in greisenhaften Vorstellungen, systematisches Verkalken des Geistes. Die Alte hört auf die Macht des Kollektivs. Sie will die die Entscheidungen für das Mädchen treffen, mit eingeschlossen die Partnerwahl.

Szene im Märchen:
Die Alte verlangt vom Mädchen die Anpassung an die anderen toten Seelen. Sie verlangt, dass die Urinstinkte des Mädchens so verkümmern, wie ihre eigenen Instinkte verkümmert sind.

Deutung:
Wenn die wahren Bedürfnisse zugunsten eines etwas leichteren Lebens aufgegeben werden, so entsteht eine dumpfe Trauer, die sich zu zwanghafter Sehnsucht auswachsen kann, zu einem Streben nach Erlösung. Die Selbstbeschränkung lässt Rastlosigkeit entstehen.

Die wilde Seele will kein Verschmelzen mit dem Kollektiv, sondern die Abgrenzung und die freie Wahl der Kontakte. Die wilde Seele wählt sich dasjenige Kollektiv aus, wo die Kreativität jeweils angemessen ist. So bewahrt die wilde Seele die Versklavung. Sie muss ein Kollektiv finden, wo die individuelle Entfaltung der Mitglieder gefördert wird.

Jedes Angebot für ein leichteres Leben soll vorsichtig abgewogen werden, denn oft ist es ein Tauschgeschäft: Das Opfern des kreativen Feuers ist nötig. Das kreative Feuer wird in einem prunkvoll ausgestatteten goldenen Käfig bzw. Krematorium "eingeäschert" und die hoffnungsvolle Person steht ohnmächtig daneben.

Das Brandopfer

Szene im Märchen:
Die Alte verbrennt die roten Schuhe des Mädchens, ohne dass das Mädchen es weiss.

Deutung:
Hier wird das kreative Feuer eingeäschert, wie ein Brandopfer für die Verlockung für die Unterkunft der Alten. Es ist ein Mord an einem bis dahin noch quicklebendigen Teil der Seele. Das Mädchen beginnt eine Existenz als lebende Tote und wird ein hungriges Gespenst. Sie sucht nach der verlorenen Integrität der Seele, nach der verlorenen Lebensfreude.

Szene im Märchen:
Das Mädchen ist gewillt, die Suche nach Heimat aufzugeben und in die goldenen Kutsche zu steigen.

Deutung:
Das Mädchen hat beschlossen, die Suche aufzugeben und gelangt in tödliche Resignation.

Solche Brandopfer sind auch durch andere Täter möglich: durch Angehörige, LehrerInnen, "Freunde", die Eifersucht und Gewalt stiften. Das eigene Seelenleben wird durch falsche Kompromisse zu Schutt und Asche. der betroffene Mensch wird spröde, trocknet seelisch aus. Es kommt zu einem unbewussten Anschwellen des Verlangens nach saftiger Lebensfreude, eben: nach den roten Schuhen.

Alles, was dem verlorenen Schatz ähnelt, wird ergriffen. Das Mädchen entwickelt eine totale innerliche Aufnahmefähigkeit. Träume zeigen die Wege auf zum Selbst zurück. Es herrscht quasi seelische Hungersnot, die durch ausschweifend neurotisches Zwangsverhalten kompensiert wird. Man fühlt sich zu Exzessen berechtigt.

Szene im Märchen:
Das Mädchen will die roten Schuhe nach langem Warten anziehen.

Deutung:
Das Mädchen will die seelische Hungersnot stillen. Sie hat dabei ihr Urteilsvermögen über ihre Handlungen verloren. Sie erlangt das verbotene Lebenselement wieder und kompensiert durch Übertreibung. Sie bekommt keinen Schlaf mehr, sondern tanzt nur noch, denn das Mädchen hat Angst, die Freiheit wieder zu verlieren. Solche verbotene Freiheiten sind bei rigiden Verhältnissen z.B. sexuelle Aktivität, künstlerisches Schaffen, Reisen, Genussmittel. Es kommt dabei zu Drogenkonsum, es entwickelt sich Sucht, Wut und Selbstzwang durch Überkompensation, z.T. Exzesse, und zwar deswegen, weil die Wahrnehmung des ausgehungerten Geistes abgestumpft ist und sich keine Grenzen setzen will. Die Grenzvorstellungen sind nie selbst gelernt worden, und die Erwachsenenwelt wird mit kindlichen Gefühlen genossen, die nicht transformiert werden konnten. Der Preis, rote Schuhe zu tragen oder selbst eine Königin zu sein ist der Betroffenen egal [dasselbe gilt auch für Männer].

Der Zoo als "goldener Käfig"

Im Vergleich geht es gefangenen Tieren im Zoo nicht besser. Sie werden depressiv, egal, wie naturnah nachgebildet die Gehege sind und wie lieb die Tierpfleger mit ihnen umgehen. Die Tiere werden lethargisch, störrisch oder ungebührend aggressiv. Die natürlichen Fortpflanzungszyklen werden unterbrochen und es kommt kaum noch zu Vermehrung. Die Zyklen von Fressen, Schlafen, Wachen verfallen. Es kommt zum Verlust der vitalen Lebensenergie.

Die Leere nach der Kompensation

Es folgt eine abgrundtiefe Leere. Es ist keine meditative Leere, sondern es ist die Leere einer geschlossenen Gefängniszelle ohne Fenster.

Das Mädchen im "goldenen Käfig" wird apathisch

wie die Tiere in einem Zoo. Es kann keine Entschlüsse mehr fassen, ist lethargisch, deprimiert, hat plötzliche Angstattacken, das Impulsivverhalten ist aberzogen, fachsprachlich ausgedrückt: "instinktverletzt". Die Vitalkräfte sind verstümmelt, unkreativ, unoriginell.

Die Heilung vom "goldenen Käfig"

Alles, was Verletzungen verursacht hat, soll rückgängig gemacht werden. Aber zuvor kommen meist noch andere Stadien.

Das Doppelleben

Die Konfirmation: Die weibliche Einweihung

Die Einweihung ist eine Addition oder Umwandlung eines sehr viel älteren Einweihungsmotivs. Das Mädchen erhält den rituellen Segen der älteren Frauen des Dorfes, in ein immer weniger von der Mutter geprägtes Leben hinauszugehen und selbständig zu werden.

Ein Gerücht über matriarchalische Kulturen des frühgeschichtlichen Indien, Ägypten und Mittleren Ostens besagt, dass bei den Einweihungszeremonien die Füsse der Jungen Mädchen mit Henna oder anderen roten Pigmenten gefärbt wurden als Darstellung der Schwelle zur Erwachsenenwelt. Die rote

Farbe ist dabei das Symbol für das Menstruationsblut und für die Fähigkeit, neues Leben zu empfangen und auszutragen, als Feier der weiblichen Blutung, von Menstruation, Geburt und Fehlgeburt.

Die Kirche hat mit der Einführung der Konfirmation alles Wissen um die Menstruation und Geburt ausradiert. Auch im Märchen interessiert sich das Mädchen nicht im Geringsten dafür, sondern kauft sich die roten Schuhe heimlich, ohne über die Zusammenhänge Kenntnis zu haben.

Entstehen einer Schattenwelt - die Doppelexistenz

Im betroffenen Mädchen entsteht eine Schattenwelt, wo das unterdrückte Lebenselement sich ansiedelt und unkontrolliert wuchert. In der Psyche entsteht Druck und Gegendruck. Diese Umstände müssen früher oder später mit gewaltsamer Entladung zur Explosion führen. Am Grund der Schattenwelt steht die visionäre Schöpferin, die Hellsehende, die Hellfühlende.

Das Wirken der Kräfte der Schattenwelt

Diese Kräfte schmieden Fluchtpläne zum Erlangen der Freiheit. Der gewaltsame Ausbruch ist vorprogrammiert. Die Energie kann dabei unberechenbar werden. Die Energie breitet sich unterirdisch aus. Es entsteht die Doppelexistenz, die zum ungünstigsten Zeitpunkt entdeckt wird.

Das Doppelleben des Mädchens - das Doppelleben von Frauen

Szene im Märchen:
Nur wegen der Farbenblindheit der Alten ist es dem Mädchen möglich, rote Schuhe anzuziehen.

Deutung:
Die Alte ist eine derartige Perfektionistin und hat eine derart eingestaubte Sichtweise, dass sie alles mit einem Grauschleier sieht. Sie kann die Seelenwelten der Mitmenschen nicht mehr nuanciert wahrnehmen.

Szene im Märchen:
Das Mädchen kauft heimlich rote Schuhe und tanzt ohne Unterbrechung.

Deutung:
Das Mädchen will die abgetöteten Instinkte wieder ausleben dürfen. Dabei tricksen sich die Frauen aber selbst aus. Sie haben auf ihre Leidenschaft verzichtet und holen sie durch das Hintertürchen wieder rein, leben in ihrem Traum in der Unterwelt und versuchen über die Unterwelt, die Lebensfreude allein zu geniessen, ohne sich die passenden Menschen zu suchen. Ohne Hilfe ereilt solche Frauen dann oft der Tod.

Solche Frauen sind:
-- Frauen in unglücklichen Ehen
-- Frauen mit eingeflössten Minderwertigkeitskomplexen
-- Frauen voller Angst vor Strafe und Erniedrigung
-- Frauen voller Scham.

Eines Tages sagt sich die wilde Seele dann selber, es sei Schluss mit der Heimlichtuerei. Die ist, wie wenn man sich lange das Atmen verboten hätte, und dann wieder atmen dürfte.

Der Räuber als Schuhmacher

Szene im Märchen:
Der Räuber zwinkert das Mädchen an. Es macht ihm Vergnügen, gleich die Alte und das Mädchen auszutricksen. Er weiss von den Fähigkeiten der Schuhe. Er profitiert von der Not des Mädchens.


Deutung:
Schuhmacher und Soldaten sind Symbole der Räuber und des Teufels. Diese beiden Figuren haben zur Geräte, die früher als Teufelswerkzeug galten. In der Folge sind sie in Märchen als "Handlanger des Teufels" eingesetzt. Man erkennt die Figuren auch daran: Der Teufel hat versucht, sich in einen Menschen zu verwandeln, was ihm nicht ganz geglückt ist. Also ist der Mensch verkrüppelt, mit Klumpfuss, Buckel, Hinkebein, oder im Märchen mit den roten Schuhen: mit dem Arm in der Schlinge.

Das Zwinkern des Schusters bzw. des Soldaten ist die Verführung.

Auch: Die Frauen sind durch solche Figuren auch dermassen eingeschüchtert, dass sie sich schliesslich gezwungen sehen, die Schuhe des Teufels anzuziehen, um das Doppelleben zu überwinden, weil das, was in ihnen zum Ausdruck ringt, übermächtig wird.

Im Märchen bringt der Soldat die Füsse zum Kitzeln. So werden die Füsse zum Tanzen animiert, die Unterwelt wird herausgekitzelt.

Die Macht des Kollektivs: "Verhaltensnormen" und Bespitzelung oder Verbannung

Im Kollektiv werden Diskrepanzen von Verhaltensnormen zurechtgerückt oder mit Gewalt angepasst. Dabei entstehen vergesellschaftete, negative Komplexe.

Die Frauen begehen mit der Anpassung ans Kollektiv entweder den Kniefall vor dem Kollektiv oder werden ins Exil verbannt. In beiden Fällen treibt man die Frauen dem Teufel oder dem Räuber in die Hände.

Die Frauen, die sich nicht beugen wollen, haben gleichzeitig Angst, dass man für gewisse Aktivitäten von den Mitmenschen gemieden wird. Sie haben Angst vor dem Liebesentzug, haben Angst, wie "Luft" behandelt zu werden. Ihre Meinung wird nie gefragt sein, nur weil sie einen anderen "Nagellack" als "normal" aufgetragen haben.

Dabei vollzieht die seelisch unterdrückte Frau keine Weigerung, sich anzupassen, sondern sie kann es nicht. Sie würde beim Kniefall seelisch zugrunde gehen.

Gleichzeitig werden diejenigen Frauen, die "aus der Reihe tanzen", von der Mehrheit der Frauen des angepassten Kollektivs beobachtet, bespitzelt und angeschwärzt und verleumdet. Das Kollektiv entwickelt ein zwanghaftes Verhalten, die geistige und emotionale Misshandlung an den wilden Frauen fortzusetzen. Dabei bespitzeln jüngere Frauen auch ältere Frauen.

Zusammenfassend:
Insgesamt entwickelt sich bei der wilden Frau oft keine Rebellion, sondern eine Doppelexistenz mit suchtbildender Ersatzbefriedigung.

Das letzte Mal ein braves Kind

Szene im Märchen:
Das Mädchen hat die Schuhe hoch oben auf dem Schrank versteckt und ist brav bis zum letzten Moment.

Deutung:
Das Mädchen ist "brav" als Fassade. Die Basis der Seele wird aber nicht untersucht und aufgelöst, sondern in der Seele kocht es weiter. der Versuch der Anpassung macht jede sinnvolle Veränderung an sich selbst unmöglich.

Das Gewöhnen an Gewalt

Die Gesellschaft gewöhnt sich z.T. dermassen an Gewalt, dass sie als "normal" akzeptiert wird und auch bei möglicher Flucht gar nicht mehr die Flucht ergreift. Frauen verlassen ihre Sauf-Ehemänner nicht, oder Angestellte korrigieren den Quälgeist des Vorgesetzten nicht, oder Opfer flüchten nicht vor der Gruppe, die sie ausbeuten. Die Kraft, sich zu wehren, geht bei Akzeptanz von Gewalt verloren, sogar, wenn es unser Liebstes ist. Die Psyche wird gelähmt. So wird die psychische Umweltverschmutzung zugelassen und die Seele des/der Betroffenen wird verschandelt. Solange diese psychische Misshandlung geduldet wird, dürfen wir uns gemäss Estés nicht einbilden, dass wir die Umwelt vor weiteren Misshandlungen bewahren können.

Das Befreien zur wilden Frau

Die Befreiung kommt nur mit grundlegenden Regeln zustande:
-- nicht alle Schuld auf andere schieben
-- nicht alle Schuld sich selbst geben
-- es müssen beide Seiten in ihren Wirkungen berücksichtigt werden, also auch die unbewusste Umwelt, in der wir existieren, miteinbeziehen
-- es soll ehrlich untersucht werden, was an welcher Seite repariert werden kann.
-- man soll sich nie mit der Normalisierung des Abnormen abfinden, denn sonst entsteht weiter Verzweiflung, Verbitterung und Verstummung.

Die Fehler der ausgetrockneten Alten

Im Gesamten gesehen liegt der Fehler der Entwicklung nicht nur beim Mädchen, sondern auch bei der ausgetrockneten Alten, denn
-- sie wollte Schutzpatronin und Führerin der Psyche des Mädchens sein
-- sie wird farbenblind, so dass das Mädchen die Alte überlisten kann
-- sie bemerkt die Besessenheit des Mädchens auf die Schuhe nicht
-- sie durchschaut auch den Charakter des Mannes mit dem roten Bart nicht, der die Füsse des Mädchens zum Kitzeln bringt.

Somit ist also auch die ausgetrocknete Alte fern von jedem Verstand. Das Mädchen tut nämlich alles, um der Dame zu gehorchen, und die Signale der Entwicklungsfehler des Mädchens sind vorhanden. Aber die Alte hat so ein trockenes Dasein, dass sie es nicht merkt.

Das süchtige Mädchen - wie kommt es zur Sucht?

Das Mädchen, das von der Alten alle Sachen verboten bekommt, die es gerne mag, wird so hoffnungslos süchtig nach dem Verbotenen. Dieses Zwangsverhalten wird vom Soldaten noch stimuliert. Dann kann das Mädchen nicht mehr aufhören.

Das Gespenst im Kirchhof spricht einen Fluch aus, der die Süchtigen zum Ausleben ihrer Obsessionen zwingt. Und die Mitmenschen, die diese Entwicklungsfehler nicht haben, lehnen das Mädchen ab.

Zur Sucht kommt es durch den Mangel an ungebärdiger Lebensfreude.
->> dadurch werden die Instinkte verstümmelt
->> dadurch kann der/die Betroffene die Auswirkungen des negativen Denkens nicht mehr abschätzen
->> dadurch werden Misshandlungen, Drogen und Alkohol toleriert, von dem man nur schwer wieder los kommt
->> es entsteht eine Leere in der Psyche, denn die Verführer zeigen sich dann oft nicht mehr; im Märchen: Die Alte wird sterbenskrank, es ist absolut kein Leben da, die Psyche des Mädchens hat keine Zuflucht, die Alte kann das Masshalten nicht mehr bestimmen und nicht einmal mehr Einspruch erheben.

Der Verlust des Instinktgespürs

verläuft manchmal unmerklich, über Jahre hinweg. Die Gesellschaft fördert das Abtöten der Urinstinkte, vielfach sogar andere Frauen, die in der Vernachlässigung ihrer Instinkte einen Weg sehen, den sozialen Status zu erreichen, der naturbelassenen Frauen vorenthalten ist.

Das Suchtverhalten beginnt mit dem Aufgeben des selbstgestrickten, sinnvollen Lebens. Der/die Betroffene fixiert sich auf Dinge, die dem Verlorenen ähneln.

Das Mädchen im Märchen greift zu Ersatzbefriedigungen. Die peinlichen Entgleisungen sind egal. Die Reaktionsfähigkeit ist geschwächt. Auf Unverschämtheiten reagiert es gar nicht mehr. Das Fluchtverhalten ist geschwächt, und die seelische Verletzung wird immer tiefer.

Drogensucht und Alkoholsucht sind Partnerersatz

Droge und Alkohol werden zum Partnerersatz, sind brutale Liebhaber: zuerst ist der/die Betroffene behandelt, dann misshandelt, dann wird ihm vergeben, dann geht die Misshandlung weiter. Der/die Betroffene will das Gute der Beziehung erhalten, will die Schattenseiten übersehen, bleibt ungeheilt. Dies ist die Falle. Zuletzt wird der/die Betroffene unaufhörlich hingerissen, und das Leben wirbelt nur noch verschwommen im Hintergrund vorbei. Am Ende wartet wie im Märchen der Scharfrichter.

Der Scharfrichter vollzieht die Umkehr von der Sucht zum Leben

Die Sucht ist so weit fortgeschritten, dass der/die Betroffene innerlich tot ist, sich in eine gefühllose Existenz zurückgezogen hat und wie eine wandelnde Tote immun ist. Es gibt nur noch ein Mittel, das Suchtverhalten zu beenden: die Amputation. Damit ist jede Flucht unmöglich, und für alle Mitmenschen wird die Sucht offenbar. Gleichzeitig ist der absolute Zwang gegeben, sich ein neues Leben zusammenzuschustern.

Szene im Märchen:
Die roten Schuhe werden abgehackt als einzige Hoffnung auf Heilung. Die Füsse wachsen nach und es findet sich ein Lebensweg. Bis die Füsse nachgewachsen sind, ist das handgemachte Leben so weit gediehen, dass man nur noch in die Füsse hineinschlüpfen muss.

Therapie: Erkennen der Verletzungsmechanismen - die Heilung verletzter Instinkte

Es stellt sich die Frage: Muss das Ende des Märchens so brutal sein? Wäre auch ein anderes Ende möglich mit weniger Brutalität?

These von Estés:
Nach einer psychischen Hungersnot und überstandenem Zwangsverhalten sind mindestens ein, zwei Jahre Rehabilitation nötig,
-- an einem Zufluchtsort, an dem die Verletzungen in Ruhe untersucht und behandelt werden können,
-- wo der/die Betroffene Führung und Hilfe mit geeigneter Medizin annimmt,
-- wo der/die Betroffene das Leben allmählich wieder in die eigene Hand nehmen kann
-- wo der/die Betroffene lernt, genauer hinzuschauen, die Fallen im Leben erkennen lernt
-- wo der/die Betroffene lernt herauszufinden, auf welche Weise die Urinstinkte ausser Kraft gesetzt wurden, denn nur so können die Urinstinkte wieder entdeckt und wiederbelebt werden.

Die Fallen der Gesellschaft sind je nach Kultur verschieden, je nach typisch religiösen und ethnischen Programmierungen. Die Fallenleger müssen identifiziert und geortet werden. Ein Wolf muss alle Lebewesen in seinem Territorium kennen. Nur so kann man sein leben zurückfordern und selbständig agieren lernen.

Regeln zum Wiedererlangen der Naturinstinkte
-- nicht Hals über Kopf sich in ein wildnatürliches Leben stürzen wollen, indem man sich nicht auskennt

-- Beginn des wilden Lebens: vermehrte Aufmerksamkeit leisten, die Welt ringsherum beobachten, registrieren
-- Menschen unterscheiden lernen
-- Menschen mit intakten Urinstinkten beobachten lernen, sich die Vorbilder aussuchen
-- während der Genesung ein paar beherzte, seelenvolle Mutmacher nötig, einige inspirierende Vorbilder.

Das Erfahren der Wildbahn
-- die wilde Frau in der Frau kommt endlich zum Zug: Sie macht sich an die Arbeit mit der jeweiligen Frau
-- wichtig ist, sich mit Freunden und Leuten zu umgeben, die die Genesung und Rückkehr zu den Urinstinkten bedingungslos fördern
-- man soll nicht so genannten Fremden die Treue halten, die unter denselben Instinktverletzungen leiden und nicht den Wunsch haben, sich zu heilen, sonst ist die Provokation zum Mass-Überschreiten immer gegeben
-- Entwickeln einer gesunden Skepsis ist nötig, um den Preis für Ausschweifungen von Vornherein abzuwägen
-- die Fallen soll man auswendig lernen und die Orte der Fallen soll man sich merken, denn nur so bewahrt man/frau sich die teuer erkaufte Freiheit
-- die wilde Frau soll jedes Mal auferstehen in einer kleinen Krise oder Einseitigkeit

Das Erreichen von Ausgewogenheit
-- die Ausgewogenheit macht einen in allen Dingen reicher und zufriedener
-- Unausgewogenheit macht das Leben etwas enger und ärmer, das merkt man sofort
-- man/frau soll Aufbau- und Abbauphasen im Leben akzeptieren, denn auch die Seele muss gefüttert werden und scheidet aus
-- wenn man/frau den geistigen Organismus im Zyklus bei gleichzeitigem stetigem Wachstum arbeiten lässt und dabei alle möglichen Dinge aufnimmt und wieder ausscheidet, so lebt man/frau wie die wilde Frau: ruhig, aber einsatzbereit, wenn es notwendig ist.

Lebensfreude und Lebenslust
-- der/die Betroffene kann sich die eigenen Paar Schuhe zusammenschustern, das eigene Leben zusammenstellen
-- die Kritiker sind nicht mehr gefragt
-- die Urinstinkte lernen, was natürlich und was widernatürlich ist
-- der/die Betroffene kann nun das passende Rudel finden
-- eine neue Gefangenschaft ist absolut unerwünscht
-- Leitsatz: Nimm dir jede Freiheit, wenn die Instinkte geschärft sind, in deinen handgemachten roten Schuhen.


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