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Bipolare Störung 04: Wikipedia meint

Verlaufsformen - z.T. genetische Ursache - Medikamente und Therapie -
häufige Fehldiagnose - Familie - kreative Bipolare

von Michael Palomino

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Verlaufsformen

aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Bipolare_St%C3%B6rung

Episoden beider Art treten häufig, aber nicht ausschließlich nach einem belastenden Lebensereignis auf. Nach einigen Phasen der Krankheit können sich innere Rhythmen ausbilden, die auch unabhängig von äußeren Ereignissen wirken. Während mitunter - vor allem wenn schnell erkannt und richtig behandelt - nach der ersten oder den ersten Episoden keine weiteren mehr auftreten, tritt die bipolare Störung bei vielen als eine lebenslange, chronische Erkrankung in Erscheinung. Bei bipolaren Störungen werden die normalen Ausschläge von Depression und Euphorie überschritten, die Gegenpole sind extremer. Eine Depression wird als viel schlimmer empfunden als das "Depressiv-Drauf"-Sein, das auch viele gesunde Menschen gelegentlich durchmachen. Eine Manie ist viel stärker als normale Glücksgefühle oder als normale Gereiztheit ("Dysphorie") und als normaler Antrieb und Euphorie.

Die Phasen der Manie äußern sich häufig in starker Aktivität in Beruf und freiwilligem Engagement. Die Auswirkung der Krankheit auf ein Engagement bezieht sich insbesondere auf dessen Umfang sowie die Interpretation des Geleisteten durch den Erkrankten.

Während einer Manie konzentriert der Betroffene oft seine volle Kapazität auf meist angenehme Teilaspekte seines Lebens, wobei andere Aspekte vernachlässigt werden oder völlig ignoriert werden. Nach manchen Deutungen kann hierbei eine Flucht vor der Depression vorliegen. So kann es vorkommen, dass der Betroffene seine gesamte Energie auf sein berufliches oder freiwilliges Engagement, für einen neuen Partner oder auf Sexualität fokussiert, gleichzeitig aber wichtige oder wichtigere Dinge wie z.B. seinen Haushalt oder seinen Beruf oder seine Familie völlig vernachlässigt. Die vermehrte Leistungsbereitschaft kann zunächst auch zu Erfolgen führen. So kann der Erkrankte während einer Manie, mehr noch aber bei einer Hypomanie, bei vorhandener Begabung sehr respektable Leistungen vollbringen. Auch die übersteigerte Geselligkeit und Schlagfertigkeit kann gut ankommen.

Der Betroffene kann sich auch in Dinge hineinsteigern, die absolut realitätsfremd sind (Wahn, psychotische Symptome). Dies ist allerdings entgegen landläufigen Vorstellungen selten und vor allem in tiefer Depression der Fall (Krankheitswahn, Versündigungswahn, Verarmungswahn). Die Selbstüberschätzung und die Grandiositätsgefühle während der Manie können - sehr selten - in einen ausgeprägten Größenwahn umschlagen (Megalomanie). Dabei kann ein religiöser Wahn, auch religiöser Größenwahn auftreten. Auch wegen des durch die Manie hervorgerufenen - oder sie auslösenden - teils extremen, Schlafmangels können Halluzinationen hervorgerufen werden. Eine Manie muss aber nicht zwangsläufig mit psychotischen Symptomen im Sinne von Wahnvorstellungen verbunden sein, auch wenn diese Vorstellung noch verbreitet ist.

Häufig treten auch Mischzustände auf (bis zu 40 % der Phasen), dabei ist die Grundstimmung auch überdreht, aber nicht euphorischer, sondern eher depressiver oder angespannter Natur. Gleichzeitig ist ein erhöhter Tatendrang vorhanden. Depressive Gedanken können dann in die Tat umgesetzt werden, so dass das Suizidrisiko in diesen Zuständen wesentlich höher ist als in der reinen Depression, in der alles gelähmt wird. Die Depression verkehrt alle Aspekte der Manie ins Gegenteil und zwingt den Betroffenen zu Apathie und Lustlosigkeit. Bei dieser Erkrankungsphase höchsten Leidens erscheint sehr oft der Tod als besserer Zustand. Auch beschämen dann oft Dinge, die man in der Manie gemacht hat (oft wahllose Affären, unüberlegte schädigende Geldausgaben, zu deutliche Worte z.B. gegenüber dem Arbeitgeber, Chaos, fehlende Rücksicht auf Beziehungen, u.s.w.).

Das erstmalige Auftreten der Krankheit kann in jedem Alter geschehen. Häufigkeit und Dauer der einzelnen Phasen sind sehr unterschiedlich. Generell lässt sich jedoch sagen, dass manische Phasen in der Regel etwas kürzer dauern als depressive Episoden, dass die Intervalle zwischen den Phasen im Lauf der Zeit kürzer werden und dass mit zunehmendem Lebensalter häufiger depressive Phasen auftreten und diese länger andauern.

Bei bipolaren Störungen werden Erkrankungsformen unterschieden, die mit "Bipolar I", "Bipolar II" oder "Zyklothymie" klassifiziert werden.

Schema
                    der Bipolar-I-Störung
Schema der Bipolar-I-Störung mit Wechsel zwischen Manie und Depression

Bipolar-I-Störung. Die x-Achse ist die Zeit-Achse. Die oszillierenden Schwankungen stehen für die Ausschläge von Antrieb, Aktivität und Stimmung in Richtung der extremen Pole Manie bzw. Depression.

"Bipolar I" nennt man eine bipolare Krankheit, bei der mindestens eine voll ausgeprägte Manie vorkommt oder vorgekommen ist. "Bipolar II" charakterisiert eine Erkrankungsform, die mit Hypomanien und - oft schweren - Depressionen einhergeht.

Bipolar-II-Störung

Schema
                    der Bipolar-II-Störung
Schema der Bipolar-II-Störung mit Wechsel zwischen Hypomanie und schwerer Depression

"Zyklothymie" ist eine in den Ausschlägen schwächere Verlaufsform, die allerdings immer noch deutlich über den normalen Schwankungen liegt ("himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt"). Nach dem ICD-10 wird die Zyklothymie allerdings nicht zur bipolaren Störung gerechnet. Bei so genannten rezidivierenden Depressionen, das sind Depressionen, die - nach einem Zwischenzustand des Normalen - immer wieder kommen, steckt meist bei näherem Hinsehen eine "Bipolar II"-Störung dahinter. Die Hypomanien nehmen Ärzte oft nicht zur Kenntnis, oder sie erfahren in der meist kurzen Anamnese nichts davon, so dass Bipolare Störungen dann nicht angemessen behandelt werden. Oft genug werden nicht einmal Depressionen erkannt. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch unter Ärzten sind die Symptome manisch-depressiver Krankheiten immer noch sehr wenig bekannt, obwohl viele - in Deutschland mindestens 2 Millionen Menschen - von bipolaren Störungen betroffen sind. Die Dauer der einzelnen manischen, depressiven, hypomanischen oder gemischten Phasen kann Wochen oder Monate umfassen, auch länger als ein Jahr gehen.

Je nach der Häufigkeit der Stimmungsumschwünge unterscheidet man neben der normalen Verlaufsform das so genannte Rapid Cycling (mindestens vier Stimmungsumschwünge im Jahr), Ultra Rapid Cycling (Stimmungsumschwünge innerhalb von wenigen Tagen) und Ultra Rapid Ultradian Cycling (Umschwünge innerhalb von wenigen Stunden). Das Selbsttötungs-Risiko ist bei "Rapid Cycling" besonders hoch und die Prognose besonders schlecht.

An bipolaren Störungen Leidende haben generell ein um ein Vielfaches erhöhtes Selbsttötungsrisiko. 15 bis 30 % begehen Selbsttötung. Das ist ein Durchschnittswert. In manchen Gegenden - wie für Schottland nachgewiesen - ist die Selbsttötungsrate von Betroffenen 23mal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt, und in manchem Lebensabschnitt - beispielsweise im Zeitraum von zwei bis fünf Jahren nach der Erstmanifestation - ereignen sich besonders viel Suizide.[3]

Besonders riskant sind Depressionen, bei denen die Lähmung des Antriebs noch nicht da ist oder bereits wieder etwas verbessert ist, so dass die Selbsttötung umgesetzt werden kann. Auch gemischte Phasen (Mischzustände), bei denen in quälender Weise manische und depressive Symptome zugleich auftreten, bergen infolge der dysphorischen bzw. verzweifelten Stimmung und des enorm hohen Antriebsniveaus ein Selbsttötungs-Risiko. Ein weiterer Grund kann sich sogar bei klarer Überlegung zwischen den Phasen halten: Viele Experten halten die Depression für die Krankheit, bei der man am meisten leidet. Bipolare mit ungünstiger Prognose und vielen Phasen zuvor wissen darum, dass wieder und wieder Depressionen kommen werden.

 

Ursachen für manische Depression / bipolare Störung - [gewisse Gene tragen dazu bei]

Die Ursachen-Forschung für manisch-depressive Erkrankungen steht erst am Anfang. Die Gründe für die Entstehung der Krankheit sind demzufolge noch weitgehend unklar. Dennoch verdichten sich Hinweise auf folgende Faktoren:

Bipolare Störungen sind bis zu einem gewissen Grad erblich veranlagt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Verwandte ersten Grades von Menschen mit einer Bipolar-I-Störung ebenfalls daran erkranken, ist gegenüber der normalen Bevölkerung siebenfach erhöht. Deren Risiko, an irgendeiner Form von Gemütsleiden - an einer affektiven Störung also - zu erkranken, ist sogar um das 15- bis 20fache erhöht.[4]Bei eineiigen Zwillingen - sie sind genetisch völlig identisch - ist bei 60 Prozent der Fälle der zweite Zwilling ebenfalls von der bipolaren Störung betroffen, falls der erste erkrankt ist. Allerdings wird daraus auch deutlich, dass trotz 100prozentig gleichen Erbguts keine 100prozentige Übereinstimmung bei der Krankheit besteht.[5]

Dies weist darauf hin, dass genetische Faktoren eine wichtige Rolle bei den Ursachen, bei der Krankheitsentstehung spielen, dass aber auf der anderen Seite bei dieser Krankheit das Erbgut nicht die einzige Rolle spielt. Unterschiedliche Faktoren aus der Umwelt, die in der Lebensgeschichte wirken, wie traumatische Ereignisse (Trennungen, Mobbing und Bossing, Verlust des Arbeitsplatzes, Vertreibung und Verfolgung), sind hier von Bedeutung. Ebenso verheerend wirkt sich auch sonstiger Stress aus (hierbei sind Bipolare viel verletzlicher als Nichtbetroffene, so kann sogar Wohnungswechsel Phasen auslösen), vor allem auch psychosozialer Stress, Konflikte in der Partnerschaft, in Familie und Beruf (auch hier sind Betroffene viel mehr gefährdet).

Diskutiert wird auch eine Schwächung des Selbstwertgefühls, bei der eine tragende Säule des gesunden Zustandes wegfällt (Stavros Mentzos). Eine große Rolle bei auslösenden Faktoren spielt ein unregelmäßiger Tag-/Nacht-Rhythmus z. B. durch Schichtarbeit oder Lebenswandel, Schlafmangel, Überarbeitung, Alkohol - und sonstiger Drogenmissbrauch. Schlussendlich können jegliche Veränderungen phasenauslösend wirken. Bis zu 75% der Betroffenen berichten im reflektierenden Rückblick, dass sie unmittelbar vor der ersten spürbaren Krankheitsepisode intensiven Stress hatten - Stress allerdings, der bei nicht vulnerablen (solcherart verletzlichen, von Vulnerabilität betroffenen) Menschen keine manische oder depressive Episode ausgelöst hätte, da sie Stress besser körperlich verarbeiten.4

Spätere Krankheits-Phasen können immer weniger mit stressenden Ereignissen erklärt werden, bzw. minimaler Stress kann sie bereits auslösen.

Bipolare Erkrankungen sind also keine klassische, reine Erbkrankheit, die etwa gemäß der Mendelschen Regeln dominant oder rezessiv vererbt würde. Dennoch tragen nach heutigem Wissensstand verschiedene Gene zum Erkrankungsrisiko bei. So wurden bei manisch-depressiven Veränderungen vor allem auf den Chromosomen 18, 4 und 21 festgestellt[6]. So z.B. an einem Gen, das auf Wirkungen von Stress auf das Nervensystem Einfluss ausübt. Auch genetische Codierungen für das episodenhafte Denken können betroffen sein. Weiter ist ein Gen wirksam, das für Stoffe zur Ausbildung von Nervenscheiden und auch bei Veränderungen in der Pubertät verantwortlich ist. Gene für Monoaminoxidase (MAO), für Serotonin-Transport, für den Aufbau des Noradrenalin-Stoffwechsels sind ebenfalls betroffen. Die Neurotransmitter, die in Synapsen zwischen den Nervenzellen bei der Informations-Übermittlung hemmend oder verstärkend wirken, zeigen bei Bipolaren mengenmäßige Abweichungen von dem Zustand bei Nichtbetroffenen. Besonders die Überträgerstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin sind hier zu nennen, die auch bei anderen psychischen Störungen eine Rolle spielen. Auch der Stresshormon-Gehalt im Blut Erkrankter scheint erhöht zu sein (Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin).

Jedes einzelne Gen bzw. jeder einzelne genetische Defekt hat hierbei nur einen relativ geringen Effekt. Solche Anlagenträger sind recht verbreitet. Kommen allerdings viele solcherart wirkende Gene bei einer Person zusammen, so hat sie eine große Disposition, bei auslösenden Faktoren im Laufe des Lebens an der bipolaren Störung zu erkranken.[7]

Die Entstehung einer bipolaren Störung ist höchstwahrscheinlich multifaktoriell bedingt. Sowohl genetische Faktoren als auch psychosoziale Auslöser dürften eine Rolle spielen, d. h. das Erbgut gibt vor und die Umgebung hat weiteren Einfluss.

Die Ursachen sind noch nicht genau bekannt und erklärt, man weiß bei den einzelnen Medikamenten nicht, weshalb sie wirken bzw. weshalb sie oft erst nach Wochen wirken und bei einem recht hohen Prozentsatz gar nicht. Hingegen weiß man gut, was Erkrankten gut tut und was sie meiden sollen. Es ist viel Wissen vorhanden über Manien vermeidendes Verhalten im Vorfeld und über antidepressives Verhalten, Kriterien für den Schweregrad liegen vor, und Wissen um Phasenprophylaxe, das in Therapien und Psychoedukation umgesetzt werden kann. Hochfrequentes "rapid cycling", das bei Schwerstkranken vorliegt, ist sehr schwierig zu behandeln und man weiß noch kaum, wie der schlechten Prognose abgeholfen werden kann. In den letzten Jahren hat man sich intensiv der Erforschung und der Öffentlichkeitsarbeit zugewandt, so dass weitere Erkenntnisse zu erwarten sind.

 

Behandlung

Eine angemessene medikamentöse Behandlung erfolgt in der Regel mit Stimmungsstabilisierern. Bei akuten Manien oder dem Vorherrschen starker Manien werden oft atypische Neuroleptika verabreicht. Antidepressiva werden bei akuten Depressionen oder bei rasch wiederkehrendem (rezidivierendem) Erscheinen vieler Depressionen empfohlen. Eine vorbeugende Behandlung der bipolaren Störung geschieht mit Stimmungsstabilisierern wie Lithiumtherapie oder Antiepileptika wie Carbamazepin, Valproinsäure oder Lamotrigin. Neuerdings ist auch das Neuroleptikum Olanzapin als Phasenprophylaxe zugelassen. Die genauen Wirkungsweisen, insbesondere die des Lithiums, in Form von Lithiumcarbonat eingenommen, sind bisher noch ungeklärt.

Bei vielen Antidepressiva kann es bei Betroffenen zu einem Umschlagen in die Manie oder Hypomanie kommen ("Switch", "Switch-Risiko"); deswegen sind nicht alle Antidepressiva bei Bipolaren gleichermaßen geeignet.

Viele dieser Medikamente haben Nebenwirkungen, die den Betroffenen weitere Probleme bereiten können, wie z.B. Gewichtszunahme. Auch wirken nicht alle Medikamente bei jedem. Es kann sehr belastend sein, wenn erst viele Medikamente durchprobiert werden müssen, bis endlich ein geeignetes gefunden ist, zumal diese Medikamente meist erst nach einiger Zeit Wirkung zeigen und so lange abgewartet werden muss. Auch dies weist darauf hin, dass noch nicht genau bekannt ist, warum bei einer Person manche Medikamente wirken und manche nicht, und warum sie meist erst nach einiger Zeit wirken.

Sinnvoll ist auch eine auf die Krankheit abgestimmte kognitive Verhaltenstherapie (Psychotherapie) oder Soziotherapie oder Psychoedukation. Empfehlenswert sind außerdem Selbsthilfegruppen, wie sie sich etwa im "Bipolar-Netzwerk" zusammengeschlossen haben.

Neben der regelmäßigen Medikamenten-Einnahme hat sich ein Erkennen der persönlichen Frühwarnzeichen der depressiven, manischen oder gemischten Phasen bewährt und ein rechtzeitiges Gegensteuern durch entsprechendes Verhalten (z. B. antidepressive Tätigkeiten bei Gefahr einer Depression; antimanisches Verhalten, wie genügend Schlaf, Beschränkung, Reizabschirmung bei der Gefahr einer Manie). Kann auch eine voll ausgeprägte, schwere Phase dadurch nicht verhindert werden, so gelingt es doch oft, einen schweren Ausbruch im Vorfeld oder beim Beginn einer Krankheits-Episode abzumildern.

Neben Stress und Schlafmangel wirken sich auch Koffein, Alkohol und andere Drogen bei Bipolaren sehr ungünstig aus. Auch hier kann man gegensteuern. Vielen Betroffenen fällt es schwer, einen "Normalzustand" oder "Normalität" als erstrebenswert anzusehen. Doch solch Phasen vorbeugendes Verhalten soll den Höhenflug in die Manie und den Absturz in die Depression verhindern, darin besteht das Ziel.

Eine sehr häufige Komorbidität (Begleiterkrankung) ist Alkoholmissbrauch. Bei Erwachsenen ist Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch mit 2/3 sogar die häufigste Komorbidität, während bei Heranwachsenden die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) die häufigste Begleiterkrankung mit ebenfalls 2/3 davon Betroffener darstellt, gefolgt von Substanzmittelmissbrauch. Panikstörungen und Persönlichkeitsstörungen sind weitere häufige Begleiterscheinungen.


Koffein wirkt sich ungünstig auf die Schlafdauer aus und fördert Nervosität und Unruhe; Bipolare sind in besonderer Weise anfällig dafür und könnten eine Manie dadurch triggern.


Alkohol wirkt sich - neben der Gefahr einer Abhängigkeit - entgegen populärer Ansichten negativ auf Schlaftiefe und Schlafdauer aus und wirkt enthemmend, was einer antimanischen Prophylaxe entgegensteht. Auf der anderen Seite verstärkt Alkohol Depressivität.

Aufgrund der mangelnden Krankheitseinsicht der Betroffenen, insbesondere in manischen Episoden oder bei akuter Suizid-Gefahr, muss eine Behandlung in der akuten Krankheitsphase bei Manien oder schweren Depressionen manchmal gegen den Willen der Patienten erfolgen.

 

Häufige Fehldiagnosen

Nur der geringste Teil aller bipolar Erkrankten wird derzeit korrekt dignostiziert (Grunze & Severus 2005). Folgende Hürden erschweren eine Diagnose:

  • Lediglich knapp die Hälfte aller Manien ist entgegen weit verbreiteter Ansicht und Darstellung durch Euphorie ("himmelhoch-jauchzend") gekennzeichnet. Oft gehen zeitgleich depressive Symptome mit einher, die letztlich (zu 40 %!) in einen Mischzustand münden können. Wenn diese Mischsymptomatik nicht als solche erkannt wird, kommt es schnell zu Fehldiagnosen.
  • Verbreitete Beschreibungen nennen finanziellen Ruin, Bedenkenlosigkeit bei Trennungen und Wahn bei Manien als typische Elemente, so dass Manien, die diese Phänomene nicht aufweisen, nicht als solche wahrgenommen werden.
  • Eine "rezidivierende unipolare Depression" ist die häufigste Fehldiagnose bei bipolaren Störungen. Dies kommt daher, weil hypomane Phasen meist nicht als solche erkannt, berichtet oder erfragt werden.
  • Bei Kindern und Jugendlichen ist die Abgrenzung zur "Attentional Deficit Hyperactivity Disorder" (ADHD) schwierig.
  • In der Manie kommt es vielfach zu exzessivem Alkohol- oder Drogenkonsum, so dass eine bipolare Störung vorschnell als Alkohol- oder Drogenabhängigkeit eingeordnet wird.
  • Wenn Suchtkrankheiten als Komorbidität vorkommen, besteht eine erhöhte Gefahr, dass die Grunderkrankung verschleiert wird.
  • Obwohl die bipolare affektive Störung weit verbreitet und eine sehr ernste Krankheit ist, sind Informationen darüber in der Öffentlichkeit bis jetzt eher selten. Auch Allgemeinmediziner übersehen oft die Anzeichen dieser Krankheit. Für eine lange Anamnese steht ihnen auch meist nicht genügend Zeit zur Verfügung.

 

Epidemiologie - [1 bis 1,6% der Bevölkerung kann betroffen sein]

Die Wahrscheinlichkeit, in seinem Leben an einer bipolaren affektiven Störung zu erkranken (Lebenszeitrisiko), liegt in den unterschiedlichsten Ländern bei 1 - 1,6 %, das ist mindestens jeder Hundertste. Es besteht kein Unterschied des Erkrankungsrisikos zwischen Männern und Frauen. Das Risiko, eine hohe Phasenfrequenz (schneller Wechsel zwischen gehobener und gedrückter Stimmung) zu entwickeln, steigt mit der Dauer der Erkrankung. Etwa 10 % der Betroffenen entwickeln Krankheitsformen mit vier und mehr Episoden pro Jahr. Dies geht mit einer ernsteren Prognose einher. Ersten Untersuchungen zufolge scheinen 80 % der so genannten Rapid Cycler Frauen zu sein. Etwa ein Drittel der Patienten erreichen im Rahmen ihrer Erkrankung keine Vollremission (symptomfreies Intervall). 75 % der Patienten erleiden ihre erste Krankheitsepisode bis zum 25.Lebensjahr. 10 - 15 % der Betroffenen durchleben mehr als 10 Episoden in ihrem Leben. 39 % der Patienten haben eine weitere psychiatrische Diagnose. Die sozioökonomischen Auswirkungen von affektiven Störungen auf die Volkswirtschaft belaufen sich allein in den USA auf 45 Milliarden Dollar (Studie von 1991). Bipolare Störungen gehören laut WHO zu den 10 Krankheiten, die weltweit am meisten zu dauernder Behinderung führen. Laut einer deutschen Erhebung werden bipolar Erkrankte in Deutschland durchschnittlich zwischen dem 46. und dem 46,8. Lebensjahr berentet. Ungefähr 25 - 50 % aller bipolar Erkrankten unternehmen mindestens einen Suizidversuch. Etwa 15 - 30 % der Patienten suizidieren sich.

 

Kinder und Jugendlich [kaum betroffen]

Bis jetzt wird die Häufigkeit des Auftretens einer manisch-depressiven Episode im Kindheits- und Jugendalter mit einem Wert von unter 0,1 % als relativ gering eingeschätzt. Es spricht allerdings einiges dafür, dass dieser Wert die tatsächliche Auftretens-Häufigkeit unterschätzt, da nach Vermutung einiger Psychiater in der kinderpsychiatrischen und psychologischen Praxis Fehlinterpreationen des Beschwerdebildes bei Hypomanie und Manie in Richtung ADHS und Verhaltensstörungen vorkommen. Häufige Komorbiditäten sind Angststörungen und aggressive Verhaltensstörungen. Besonders jugendliche männliche Erkrankte weisen in 30 % der Fälle stimmungsinkongruente psychotische Merkmale auf. In Bezug auf ADHS überlappen sich viele Symptome. Hinweise auf die bipolare Störung ergeben sich vor allem in episodenhaftem Verlauf, einer signifikant höheren Beinträchtigung, und - im Fall einer Manie - durch Größenideen und Selbstüberschätzung sowie rücksichtsloses Verhalten. Eine genaue Anamnese ist somit unerlässlich. Fehlbehandlung durch Stimulanzien wie Ritalin können solche Symptome für Hypomanien und Manien verstärken. Gegenüber rein unipolar Depressiven besteht bei bipolaren Jugendlichen ein noch mehr erhöhtes Suizidrisiko.

 

Angehörige [leiden unter dem extremen Verhalten - Stigmatisierung - Selbsthilfegruppen]

Bipolare sind in ihrem Alltag durch ihre Krankheit starken Beeinträchtigungen und Leiden ausgesetzt. Aber auch Angehörige haben stark zu leiden, ob unter "Fremdgehen" oder finanziellem Ruin, distanzlosem, ruhelosen oder auffälligem Verhalten im Rahmen einer Manie, ob unter der Berufsunfähigkeit, oder ob unter dem Ausfall partnerschaftlich-unterstützender Verhaltensweisen bei Depressionen und der zermürbenden Wiederkehr solcher Phasen, noch verstärkt durch Komorbidität wie Alkoholabusus. Dazu kommt die Stigmatisierung. Kinder und Jugendliche leiden beispielsweise darunter, dass Mütter oder Väter ganz oder teilweise in ihren Phasen bei der Erziehung und im Haushalt ausfallen. Als hilfreich hat sich erwiesen, dass Angehörige, die häufig so sehr unterstützend tätig sein müssen, nicht vergessen, auch einmal an sich zu denken. In den Selbsthilfegruppen ist oft auch Platz für Angehörige und mittlerweile gibt es auch eigene Angehörigengruppen.

 

Kreative und berühmte Bipolare [Dichter, Komponisten, Maler]

Die Liste berühmter Künstler, Wissenschaftler, Entdecker und Politiker, bei denen eine bipolare Störung bekannt ist oder vermutet wird, ist lang. Einige suizidierten sich vermutlich in Folge dieser Krankheit, wie Virginia Woolf, Sylvia Plath, Robert Schumann und Vincent van Gogh[8], um jeweils Beispiele aus den Bereichen Prosa und Lyrik, Musik und Kunst zu nennen.

In seinen Tagebüchern und Briefen berichtete beispielsweise Vincent van Gogh über seine zerrissene Persönlichkeit, seine Depressionen und sein "Irresein" ("d'exaltation ou de délire", "tristesse", "accès", "crises" und "maladie mentale"). Über seine Manien schreibt van Gogh unter anderem in seinem "Brief 607" aus dem Jahr 1890: Ich bin selbst erstaunt, ... dass mir derartig wirre und grässliche religiöse Vorstellungen kommen .... In den Monaten Mai bis Juni 1889 - kurz vor seinem Psychiatrie-Aufenthalt - hatte van Gogh eine erstaunlich große Zahl von Meisterwerken gemalt (Arnold), u.a. seine bekannte und intensiv farbige "Sternennacht" mit Zypressen, die sich als bipolares Bild mit entgegengesetzten Farben auszeichnet (Vincent van Gogh aus der psychiatrischen Anstalt von Saint-Rémy-de-Provence in einem Brief vom 21. Mai 1889 an Bruder "Theo").

Solche Phasen, die als Manie mit überflutender Aktivität und nachfolgender Depression erklärbar sind, und von vielen Fachleuten als solche angesehen werden, brachten ihn bis ins "Irrenhaus", wohin ihn sein Vater schon früher bringen wollte. Auch seine Familie war belastet. Sein Bruder "Cor" (Cornelius Vincent) beging Suizid, seine Schwester "Wil" (Wilhelmina Jacoba) war nachweislich psychisch erkrankt, sein Bruder "Theo" erkrankte ebenfalls psychisch. Wichtigste Quellenbelege seiner Krankheit sind die zahlreichen Briefe zwischen seinem Bruder "Theo" (Theodorus), Vincent van Gogh selbst und Doktor Théophile Peyron, dem Psychiater der Anstalt in Saint-Rémy-de-Provence.

Vincent van Goghs Bild "Sternennacht" kann man, wie manch andere seiner Gemälde, in seinen Farben, Kontrasten und Symbolen auch als Chiffre für Bipolarität sehen. In einem handgeschriebenen Gedicht seines "Antwerpener Skizzenbuchs" schreibt Vincent van Gogh: Mein Herz ist wie das Meer / Hat Sturm und Ebb und Fluth .... Auch damit drückt er starke Gegensätze und extreme innere Gefühlsschwankungen aus. Paul Gauguin, mit dem van Gogh teilweise zusammen lebte, war möglicherweise ebenfalls bipolar [9].

Nach einer Untersuchung von Kay Redfield Jamison von 1994 beträgt die Häufigkeit bipolarer Erkrankungen bei "kreativen" Persönlichkeiten das 10fache der Häufigkeit bei der Allgemeinbevölkerung. Mehr als ein Drittel aller zwischen 1705 und 1805 geborenen englischen und irischen Dichter litten gemäß Jamison an bipolaren Erkrankungen, mehr als die Hälfte an Stimmungsstörungen[10].

Ernest Hemingway wurde als bipolar diagnostiziert, Georg Friedrich Händel und Edvard Munch[11], Hermann Hesse und Thomas Alva Edison ... die Liste bipolarer Prominenter ist lang, [12] und die Dunkelziffer sicherlich hoch[13].

Dies gilt auch für die Gegenwart. Manche Kreative sind sich ihrer Krankheit nicht bewusst oder sie outen sich nicht. Ein gegenteiliges Beispiel ist der Musiker Gordon Matthew Sumner, bekannt als Sting, der sich in einem Interview als manisch-depressiv bezeichnete und einen Song namens "Lithium Sunset" veröffentlichte.

Die Kreativitätsschübe erfolgen vorwiegend in der hypomanen Phase. In der Manie ist recht schnell Durcheinander und völlige Überdrehtheit vorherrschend, so dass Betroffene in dieser Phase oftmals Schaden anrichten und nichts Vernünftiges leisten können, während rezidivierende Depressionen und gemischte Episoden, die bei Bipolaren besonders quälend sind, die Betroffenen aus der Bahn werfen und lähmen. Durch moderne Behandlungsmethoden kann die Kreativität meist erhalten bleiben, so dass sie als positiver Aspekt dieser schlimmen und zerstörerischen Krankheit wirken kann.

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Referenzen

  1. [Eberhard J. Wormer: Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. - Ein Manual für Betroffene und Angehörige, München 2002, S. 47-54]
  2. [Jörg Walden, Heinz Grunze: Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung, Stuttgart-New York 2003, S. 7f, ISBN 3-13-104993-6]
  3. [Jörg Walden, Heinz Grunze: Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung, Stuttgart-New York 2003, S. 11, ISBN 3-13-104993-6]
  4. [Bräunig, Peter; Gerd Dietrich: Leben mit Bipolaren Störungen. Trias-Verlag 2004, S. 42-47, ISBN 3830430698]
  5. [Anna Forsthoff, Heinz Grunze: Breites Spektrum möglicher Ursachen Bipolarer Störungen. Forschungsansätze und Hypothesen, in: "Der Neurologe und Psychiater"-Sonderheft 1/05, S. 5-7, hier aus: http://dgbs.de/download/pdf/04_Ursachen%20Bipolar.pdf]
  6. [W. Maier: Genetische Aspekte bipolarer Depression. Vortrag auf dem "Wissenschaftlichen Symposium" der "Deutschen Gesellschft für Bipolare Störungen am 2. September 2005 in Bonn, Kurzfassung unter: http://dgbs.de/download/pdf/Jahrestag2005Abstracts.pdf]
  7. [Eberhard J. Wormer: Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. - Ein Manual für Betroffene und Angehörige, München 2002, S. 47-54]
  8. [M. Bauer: Neue Forschungsergebnisse bei bipolaren Störungen. Vortrag auf dem "Wissenschaftlichen Symposium" der "Deutschen Gesellschft für Bipolare Störungen am 1. September 2005 in Bonn, Kurzfassung unter: http://dgbs.de/download/pdf/Jahrestag2005Abstracts.pdf]
  9. Frederick K. Goodwin und Kay Refield Jamison: Manic depressive illness, Oxford University Press 1990, S. 332 - 367
  10. Blumer D.: The illness of Vincent van Gogh. American Journal of Psychiatry, 2002
  11. [Eberhard J. Wormer: Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. - Ein Manual für Betroffene und Angehörige, München 2002, S. 131-138]
  12. Rothenberg A.: Bipolar illness, creativity, and treatment. Psychiatric Quarterly, 2001. (Hinweis auf Bipolare Störung Edvard Munchs)

 

Literatur

Ratgeber

  • Bräunig, Peter; Gerd Dietrich: Leben mit bipolaren Störungen. Trias-Verlag 2004, ISBN 3830430698
  • Eberhard J. Wormer: Bipolar – Depression und Manie. Leben mit extremen Emotionen. Knaur, München 2003, ISBN 3-426-66748-7

Psychiatrische Fachbücher

  • Jörg Walden, Heinz Grunze: Bipolare affektive Störungen. Ursachen und Behandlung, Stuttgart-New York 2003, ISBN 3131049936
  • Andreas Erfurth (Redaktion): Weißbuch Bipolare Störungen in Deutschland, Stand des Wissens - Defizite - Was ist zu tun?, Kurzfassung: ISBN 3-8311-4520-2, Langfassung: ISBN 3-8311-4521-0
  • Frederick K. Goodwin und Kay Refield Jamison: Manic depressive illness. Oxford University Press 1990, ISBN 0195039343
  • Kay Redfield Jamison: Touched with fire. Manic-depressive illness and the artistic temperament, New York 1993, ISBN 0-684-83183-X
  • Faust, Volker: Manie. Eine allgemeine Einführung in die Diagnose,Therapie und Prophylaxe der krankhaften Hochstimmung, Enke-Verlag 1997, ISBN 3432278616
  • Klaus Dörner, Ursula Plog, Christine Teller, Frank Wendt: Irren ist menschlich, Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrie-Verlag (ISBN 3884144006).
  • Christian Scharfetter: Allgemeine Psychopathologie. Eine Einführung. Stuttgart-New York (Thieme) 2002

Fachbücher Psychotherapie

  • Meyer, Thomas D., Martin Hautzinger: Manisch-depressive Störungen. Beltz Psychologie Verlags Union 2004, ISBN 3621275517 Auf die Bipolare affektive Störung abgestimmte kognitive Verhaltenstherapie.
  • Stavros Mentzos: Depression und Manie. Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen, Göttingen 2001, ISBN 3-525-45775-8. Ein alternativer Ansatz, mit dem der Autor affektive psychische Störungen psychodynamisch zu erklären sucht, insbesondere einen hohen Stellenwert der Art des Selbstwertgefühls postuliert.

Fachartikel

  • Heinz Grunze, Emanuel Severus: Bipolare Störungen erkennen. Die Kunst der korrekten Diagnose, in: Der Neurologe & Psychiater Sonderheft 1/2005.

Erfahrungsberichte

  • Kay Redfield Jamison: Meine ruhelose Seele. Die Geschichte einer manischen Depression. Goldmann-Verlag 1999, ISBN 3442150302
  • Petra Otto: Infarkt der Seele, Büro + Service GmbH Rostock, ISBN 3899540395
  • Dr. Renate Kingma (Redaktion): Mit gebrochenen Flügeln fliegen.... Menschen berichten über bipolare Störungen, Books On Demand 2003, ISBN 3-8330-0662-5

Biografie

  • Matthias Arnold: Vincent van Gogh: Biographie, München (Kindler-Verlag) 1993, ISBN 3-463-40205-X. Diese umfangreiche und fundierte Biografie zeichnet sich dadurch aus, dass viele Original-Briefe und sonstige Dokumente darin zum Ausdruck kommen, darunter auch bisher unter Verschluss gehaltene, die einer "Legendenbildung" Vorschub geleistet hatten, so dass der Leser sich anhand der Original-Quellen ein eigenes Bild machen kann. Wenn Vincent van Gogh im Artikel zitiert wird, entstammen die Zitate diesem Buch.

aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Manische_Depression



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