aus: Wirkungen der Schule im
Lebenslauf. Ein Quellenlesebuch der Pädagogik Rudolf
Steiners, bearbeitet von Karl Rittersbacher;
Zbinden-Verlag, Basel 1975
Greisenalter im Geist
"Betrachten Sie nämlich das erst in die Welt gekommene Kind,
betrachten Sie es in seinen Formen, in seinen Bewegungen, in
seinen Lebensäusserungen, im Schreien, im Lallen und so
weiter, dann bekommen Sie ein Bild mehr des Menschenleibes.
Aber Sie bekommen dieses Bild des Menschenleibes auch nur
vollständig, wenn Sie es beziehen auf das mittlere und auf
das greise Lebensalter des Menschen. Im mittleren
Lebensalter ist der Mensch mehr seelisch, im Greisenalter
ist er am meisten geistig. Das letztere könnte leicht
angefochten werden. Selbstverständlich werden da manche
sagen: Aber viele Greise werden doch wieder ganz
schwachgeistig! Das ist insbesondere ein Einwand des
Materialismus gegen das Seelisch-Geistige, dass man im Alter
wieder schwachgeistig wird, und mit einer wahren
Beharrlichkeit dozieren ja die Materialisten, dass selbst
ein so grosser Geist wie Kant in seinem Alter schwachsinnig
geworden wäre. Dieser Einwand der Materialisten und diese
Tatsache sind richtig. Allein, was sie beweisen wollen,
beweisen sie nicht. Denn auch Kant war, als er vor der
Todespforte stand, weiser, als er in seiner Kindheit war;
nur war in seiner Kindheit sein Leib imstande, alles
aufzunehmen, was aus seiner Weisheit kam; dadurch konnte es
bewusst werden im physischen Leben. Im Greisenalter dagegen
war der Leib unfähig geworden, das auch aufzunehmen, was der
Geist ihm lieferte. Es war der Leib kein richtiges Werkzeug
des Geistes mehr. Daher konnte auf dem physischen Plan Kant
nicht mehr zum Bewusstsein dessen kommen, was in seinem
Geiste lebte. Trotz der scheinbaren Tragkraft des eben
gekennzeichneten Einwandes muss man sich ja doch klar
darüber sein, dass man im Alter weise, geistvoll wird, dass
man sich den Geistern nähert." (S.36; D3, Band 1, 7.Vortrag)
Greisenalter: Erkennen und
Fühlen sind zusammengewachsen
"Anders wird das beim Greise [im Gegensatz zum Baby, das
Bewegungen und Gefühl nicht auseinanderhalten kann]. Beim
ihm [beim Greis] ist das Entgegengesetzte der Fall:
Denkendes Erkennen und Fühlen sind zusammengewachsen, und
das Wollen tritt in einer gewissen selbständigen Art auf. Es
verläuft also der menschliche Lebensgang in der Weise, dass
das Fühlen, welches zuerst an das Wollen gebunden ist, sich
allmählich im Laufe des Lebens vom Wollen loslöst. Und damit
haben wir es gerade vielfach im Erziehen zu tun: mit dem
Loslösen des Fühlens vom Wollen." (S.36; D3, Band 1, 7.
Vortrag)
"Warum hören wir dem Greise zu, auch wenn er uns von seinen
Lebenserfahrungen erzählt? Weil er im Laufe seines Lebens
sein persönliches Empfinden verbunden hat mit seinen
Begriffen und Ideen. Er erzählt uns nicht Theorien, er
erzählt uns das, was er persönlich an Gefühlen hat anknüpfen
können an die Ideen und Begriffe." (S.38; D3, Band 1, 7.
Vortrag)
"Und während wir Runzeln bekommen und kahlköpfig werden dem
physischen Leibe nach, werden wir, oder können wir
wenigstens dem ätherischen Leibe nach immer pausbackiger und
blühender werden." Der sich entwickelnde Geist durch
Erkenntnis im Leben wird zum "Quell der Verjüngung" (S.90;
A2)
Segnende Worte durch ältere
Leute, die höhere Mächte der Welt akzeptieren
"Wir wissen, es gibt Leute, welche, wenn sie ein gewisses
Lebensalter erreicht haben, für die Umgebung, in der sie
sich aufhalten, eine Wohltat sind, deren Worte gar nicht
viele zu sein brauchen: Sie wirken wie segnend, ihre Worte.
Es ist etwas, das die Stimme durchdringt, es ist nicht der
Inhalt der Worte. Es ist ein Segen für die Menschen, in der
Zeit der Kindheit in die Nähe solcher Menschen zu kommen.
Wenn wir zurückgehen bei solch einem 50-, 60-Jährigen und
schauen, was ihm im kindlichen Leben zwischen dem
Zahnwechsel und der Geschlechtsreife gegeben worden ist, was
er gelernt hat, so kommen wir darauf, dass er verehren
gelernt hat, ein Verehren im Moralischen, das ihn in der
richtigen Weise aufschauen lehrte, religiös zu den höheren
Mächten der Welt; ein Mensch, der in der richtigen Weise,
wenn ich so sagen darf, beten lernte."
(S.138; A4 VI., 2. Vortrag)
Die Jugend wird das Alter
verehren, wenn die Jugendlichen die Fähigkeiten erkennen
"Denn vielfach sagen die Leute: Ja, heute versteht die
Jugend das Alter nicht, weil das Alter nicht versteht, jung
zu sein mit der Jugend. - Das ist aber nämlich gar nicht
wahr. Nichts (S.202) davon ist wahr. Sondern die Jugend
erwartet vom Alter, dass das Alter nun in der richtigen
Weise die altgewordene Körperlichkeit benutzt. Da sieht die
Jugend im Alter etwas ganz anderes, als was sie selber hat:
Dann auch stellt sich die selbstverständliche Verehrung des
Alters ein. [...] Darum handelt es sich nicht, dass das
Alter heute zu wenig jugendlich ist, sondern das Alter ist
viel zu kindlich geblieben: Das ist [es], was heute die
Schwierigkeiten macht. Also, man bezeichnet vielfach mit dem
allerbesten Willen das, was ist, durch das
Entgegengesetzte." (S.203)
(S.202-203; D11, 8. Vortrag)