aus: Wirkungen der Schule im
Lebenslauf. Ein Quellenlesebuch der Pädagogik Rudolf
Steiners, bearbeitet von Karl Rittersbacher;
Zbinden-Verlag, Basel 1975
Intellektualistisches
Buchstabenlernen - künstlerisches Buchstabenlernen
"Lasse ich das Kind denken, lehre ich das Kind zum
Beispiel rein denkerisch schreiben, indem ich mir sage:
Die Buchstaben sind da, das Kind muss diese Buchstaben
lernen, dann beschäftige ich dieses Kind
intellektualistisch, dann züchte ich in ihm die Sklerose,
wenigstens die Neigung dazu; denn es gibt keine innere
Beziehung des (S.107) Menschen zu diesen jetzt
entwickelten Buchstaben. Die sind kleine Dämonen für die
menschliche Natur. Man muss erst die Brücke, den Übergang
dazu finden. Diese Brücke, diesen Übergang, findet man,
wenn man das Kind zunächst sich künstlerisch betätigen,
mit künstlerischem Sinn malen, zeichnen lässt, was aus
seiner innersten Natur an Linien, an Farben förmlich von
selbst von dem Kinde aufs Papier geht. Dann entsteht
immer, wenn man das Kind künstlerisch sich betätigen
lässt, innerlich das Gefühl - und auf dieses Gefühl kommt
es an - dass man durch die künstlerische Betätigung zu
reich ist als Mensch. Durch den Verstand verarmt man
seelisch, durch den Verstand wird man innerlich öde; durch
das künstlerische Handhaben wird man innerlich reich, und
man bekommt das Bedürfnis, nun diesen Reichtum etwas
abzuschwächen. Und dann lenkt sich das
Bildhaft-Künstlerische, das man erlebt, von selbst zu den
ärmeren Begriffen und Ideenentwicklungen."
(S.107-108; D12, 8. Vortrag)
"Das ist der Grund, warum in der Waldorfschule zunächst
gerade im Anfang des schulmässigen Alters auf das
Künstlerische und nicht auf das Intellektualistische
dieser hohe Wert gelegt wird, warum zunächst das
Bildhafte, das Unintellektualistische den Unterricht
beherrscht, und warum im Verkehr des Lehrers mit dem Kinde
überall Musikalisches, eben Rhythmisch-Taktmässiges
hineingetragen wird, damit gerade dasjenige Mass von
Intellektualität erzeugt wird, zu dem das Kind dann selber
das Bedürfnis hat, und damit die geistige Erziehung
zugleich die beste Körpererziehung wird."
(S.108; D12, 8. Vortrag)
"Von der Bilderschrift ist die Welt ausgegangen. Indem wir
die Schrift an das Kind heranbringen, müssen wir auch
wiederum von dem Bilde ausgehen. Wir befolgen daher in
Stuttgart, in der Waldorfschul-Erziehungskunst dies, dass
wir überhaupt nicht mit den Buchstaben als solchen,
sondern dass wir künstlerisch mit dem Mal- und
Zeichenunterricht beginnen. Das ist schwierig bei dem
Kinde, das mit 6 oder 7 Jahren die Schule betritt; aber
die Schwierigkeit wird überwunden werden. Und sie wird
überwunden, wenn wir in der richtigen Weise mit unserer
Autorität neben dem Kinde so stehen, dass das Kind
tatsächlich in sich das Gefühl bekommt: Das, was der
Erzieher aus der Farbe, aus der Form heraus bildet, das
will ich auch nachmachen, denn ich will so werden wie er.
- Auf diesem Umwege muss alles erlernt werden."
(S.135; A4 VI., 2. Vortrag)