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Kindererziehung zur Intelligenz

2. Wie man Kinder zum Lesen bringen kann

Kinder lesen
Kinder lesen [2]. Zuerst lesen Eltern Geschichten vor, und dieses Vorbild wird dann nachgeahmt.

von Michael Palomino (2012)


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Vorlesen - das erste Kind ist der Lese-Pionier
Lesen ist eine geistig komplexe Tätigkeit, die einiges Training abverlangt. Dieses Training kann bei den Kindern stimuliert werden, indem erwachsene Menschen den Kindern Geschichten vorlesen, etwa immer am Abend vor dem Schlafengehen (wenn die Kinder schon im Bett sind), oder an einem bestimmten Nachmittag. Es ist dabei wichtig, dass Vater und Mutter sich beim Vorlesen abwechseln, denn Kinder möchten eigentlich immer, dass die hohe und die tiefe Stimme gleichwertig sind. Das heisst, die Kinder möchten die ganze Klangbreite der Elternstimmen hören, wie wenn die Geschichte in Stereo gesendet würde. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wollen die Kinder dann das Lesen "nachmachen", und so ist die Neugierde auf Buchstaben geweckt und das Lesen der ersten Silben kann beginnen.

Dabei hat es das erste Kind einer Familie immer am schwersten und ist der Lese-"Pionier". Die Eltern müssen also das erste Kind beim Lesen speziell unterstützen, damit das Kind in der Schule nicht ins Hintertreffen gerät. Denn viele Schulkameraden sind nicht das "erste Kind", und haben es viel leichter, lesen zu lernen.

Das heisst: Die nachfolgenden Kinder in einer Familie können nachmachen, was das erste Kind bereits kann, oder lassen sich dann vom ersten Kind helfen. Und so sind die nachfolgenden Kinder beim Lesen viel schneller. Da kann es vorkommen, dass das erste Kind mit 6 lesen lernt, und das zweite Kind mit 4 Jahren nimmt sich ebenfalls die Lesebücher und lernt mit und kann mit 5 schon lesen, ohne auch nur eine Schulstunde in der Schule gewesen zu sein.

Manche Kindergeschichten sind auch auf CD oder auf Kassette erhältlich, und so können die Kinder die Geschichte abspielen und gleichzeitig das Buch dazu mitlesen.

Eine gewaltfreie Familie lässt beim Kind eine natürliche Neugierde für sinnvolle Sachen entstehen
Es ist generell aber gar nicht wichtig, wie früh ein Kind lesen kann, sondern es kommt darauf an, ob die Familie gewaltfrei lebt und welche Bücher in der Familie gelesen werden, so dass sich bei den Kindern von allein eine natürliche Neugierde entwickelt. So entwickeln die Kinder dann ab 8 Jahren von alleine einen Wissensdrang "nach mehr" und nehmen sich die Anregungen aus dem Umfeld, also nicht nur von der Familie, sondern auch von der Schule, von Nachbarsfamilien, aus Kinderbibliotheken, aus Ferienlagern etc.

Das Malen und Setzen von Buchstaben
In der ersten Zeit des Lesenlernens werden Buchstaben variiert, oder ganze Buchstabenreihen geschrieben. Auch Setzkästen oder Scrabble-Buchstaben können da zum Zuge kommen, und es können lustige Spiele daraus entstehen. Dabei kann man auch "praktische" Übungen machen, indem man den Kindern genau zeigt, wo in der Öffentlichkeit Buchstaben zu finden sind, also nicht nur Strassennamen, sondern auch Plakate, Preisschilder etc.

Ja, und die Familie ist natürlich dazu angehalten aufzupassen, dass beim Setzkasten oder beim Scrabble keine Buchstaben verlorengehen.

Kinderbücher mit Bildern zum Ausmalen
Ganz wichtig sind dabei Kinderbücher, die viele Bilder zum Ausmalen haben, so dass die Verbindung zur Geschichte nicht nur durch das Lesen passiert, sondern auch durch das Ausmalen der Bilder. Bücher mit Fotos drin sind also für Kinder gar nicht gut, sondern es sollten Bilder zum Ausmalen darin sein. Solche Kinderbücher mit Bildern zum Ausmalen sind zum Beispiel Pippi Langstrumpf oder Jim Knopf. Es ist eigentlich traurig, dass dieses Konzept mit den Bildern zum Ausmalen nicht viel öfters angewandt wird.

Bücher über Lieblingshobbys - Kinderzeitungen
Die Eltern können das Lesen dann z.B. auch dadurch fördern, dass sie ein Buch über das Lieblingshobby des Kindes kaufen, oder dass eine Kinderzeitung für das Kind abonniert wird, oder dass man auf Buchmessen geht. Eventuell entwickelt das Kind beim Anblick der Kinderzeitung sogar den Drang, selber Artikel zu schreiben.

Eine weitere Bereicherung sind Aufenthalte der Familie im Ausland, wo eine andere Sprache gesprochen wird, so dass die Kinder mit neuen Wörtern konfrontiert werden, die dann von den Eltern übersetzt werden.

Ab 10 oder 11 lesen die Kinder alleine
Ab 10 oder 11 Jahren wollen die Kinder dann meistens alleine lesen und wollen die Eltern meistens gar nicht mehr dabeihaben. Die Kinder verfügen dann vielleicht sogar über ihre eigene, kleine Kinderbüchersammlung. Der komplexe Lesevorgang verselbständigt sich und nimmt dann in der Jugend eine Hürde nach der andern, eventuell auch mit dem Erlernen von Fremdsprachen, so dass auch noch Vergleiche zwischen den Sprachen möglich sind, was wiederum eine kulturelle Bereicherung darstellt.

Übertriebene Lesetätigkeit regulieren
Übertriebene Lesetätigkeit sollten die Eltern dann regulieren. Wenn das Kind also spazierend ein Buch liest, dann ist dies doch nicht sehr ungefährlich und eigentlich nicht so intelligent, oder wenn das Kind bei dunklem Licht liest, was den Augen nachweislich schadet, dann ist dies auch nicht mehr so intelligent, oder wenn das Kind mehr liest als schläft, weil die Geschichte so "spannend" ist, dann sind die Eltern auch angehalten, regulierend einzugreifen, und vielleicht Teile der Geschichte nachzuspielen, um die seelische Spannung etwas abzubauen und zu relativieren. Man kann dann auch Exkursionen einschalten, um das Kind wieder auf andere Themen zu bringen.

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Meldungen



18.10.2012: Kinder, denen vorgelesen wird, entwickeln mehr Fantasie und haben allgemein bessere Schulnoten

aus: Der Standard online: "Die Freude am Lesen vermittelt man schon vor der Geburt"; 18.10.2012;

http://derstandard.at/1345165993139/Lesefreude-vermittelt-man-schon-vor-der-Geburt

<Interview |
Lisa Mayr

Kinder, denen vorgelesen wird, haben später bessere Schulnoten - nicht nur in Deutsch und unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern.

"Mit dem Vorlesen aufzuhören, wenn Kinder in die Schule kommen, ist das Falscheste, was Eltern tun können", sagt Simone C. Ehmig.

Wie findet das Kind zum Buch? Vor allem über die Eltern als Vorbilder, sagt die Expertin - Die Schule kommt da reichlich spät.

Ob Kinder gerne lesen oder nicht, ist vor allem hausgemacht. Eltern und Erziehungsberechtigte spielen die entscheidende Vorbildrolle, indem sie ihren Kindern einen natürlichen Umgang mit Büchern, Lesemedien und Texten vermitteln. Simone C. Ehmig leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der deutschen Stiftung Lesen. Im Interview mit derStandard.at erklärt sie, dass Leseförderung in der Schwangerschaft beginnen sollte, warum bildungsferne Kinder im Nachteil sind und wieso Eltern weder Ohrensessel noch dicke Wälzer brauchen, um Lesevorbilder zu sein.

derStandard.at: Welche Rolle spielen die Eltern bei der Entstehung kindlicher Leselust?

Ehmig: Eine ganz wichtige. Wir wissen aus Studien mit schwangeren Frauen, dass Kinder schon im Mutterleib den Duktus von Sprache kennenlernen und einen Zugang zu Sprache entwickeln. Es ist wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern so früh wie möglich sprechen, ihnen vorlesen und Geschichten erzählen. Viele Eltern wissen gar nicht, wie viel man mit wenig Aufwand tun kann, um Kinder früh zu fördern.

Kleine Kinder imitieren ständig Dinge, die um sie herum passieren. Wenn sie ihre Eltern im Alltag als lesende Menschen wahrnehmen und sehen, wie sie in der Zeitung blättern oder ein Buch lesen, dann wird das für sie zu etwas Normalem. Die Eltern haben die entscheidende Vorbildrolle. Sie müssen zeigen, dass Lesen zum Leben dazugehört - ohne es auf einen elitären Sockel zu stellen.

derStandard.at: Vorbildrolle heißt also nicht, dass sich Eltern regelmäßig mit dem dicken Wälzer in den Ohrensessel zurückzuziehen?

Ehmig: Genau - und es geht nicht nur um Bücher. Für die Vorbildrolle muss es auch nicht die hohe Literatur sein. Sondern das, was die Eltern eben gerne lesen. Lesen ist ja nicht nur ein Kulturgut, sondern vor allem eine Fähigkeit, die wir im Alltag ständig brauchen. Als Vorbilder sollten Eltern aber sichtbar sein als Menschen, die auch einmal in Ruhe etwas anderes lesen als SMS.

derStandard.at: Was kann die Schule retten, wenn die Kinder von zu Hause keinen Zugang zum Lesen mitbekommen haben? 

Ehmig: Die Schule kommt eigentlich zu spät. Man muss viel früher beginnen. Freude am Lesen vermittelt man Kindern ab dem Zeitpunkt der Geburt. Je früher Kinder auf spielerische Art und Weise mit Sprache und Lesen in Berührung kommen, desto früher bauen sie eine Beziehung zum Lesen auf. Sie lernen ganz natürlich, dass es zum Leben dazugehört. 

Wenn die Kinder in die Schule kommen, kommt es bei vielen zu einem Leseknick. Die Lesefähigkeit stagniert dann erst einmal, das Interesse am Lesen nimmt oft sogar ab. Ein Grund ist, dass viele Eltern sagen: "Du lernst ja jetzt selber lesen, jetzt hör ich auf mit dem Vorlesen." Mit dem Vorlesen aufzuhören, wenn Kinder in die Schule kommen, ist das Falscheste, was Eltern tun können.

derStandard.at: Wie können Eltern abseits der Vorbildrolle die Leselust ihrer Kinder fördern? 

Ehmig: Über Freude und Spaß. Leistungs- oder Notendruck sind kontraproduktiv. Durch Spaß lassen sich selbst die negativen Vorstellungen vom Lesen zurechtrücken, die Kinder aus lesefernen Familien oft haben. 

derStandard.at: Warum ist es eigentlich so wichtig, dass man Kindern vorliest?

Ehmig: Kurzfristig fördert man bei kleinen Kindern Sprachbildung und Fantasie. Es gibt aber auch langfristige Effekte. Studien haben gezeigt, dass Jugendliche, denen als Kindern vorgelesen wurde, nicht nur häufiger, intensiver und lieber lesen. Sie haben im Schnitt auch bessere Schulnoten als Jugendliche, denen nicht vorgelesen wurde. Und zwar in allen Fächern, nicht nur in Deutsch.

Das zeigt sich ganz besonders bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern, wo die Eltern selbst keine höhere Bildung haben. Diese Kinder profitieren auf ganzer Linie, wenn ihnen früh vorgelesen wird. Die Vorteile des Vorlesens betreffen alle Kinder, unabhängig von der sozialen Schicht. 

derStandard.at: Welchen Einfluss hat die soziale Herkunft auf die Lesefreude von Kindern?

Ehmig: Den entscheidenden. Alle Studien zeigen: Je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto stärker ist die Nähe der Kinder zum Lesen. Denn der soziale Hintergrund hängt sehr stark mit dem Bildungshintergrund zusammen. Kinder aus bildungsfernen Milieus finden viel schwerer Zugang zum Lesen und zu Büchern. Sie lesen oft nur dann, wenn sie unbedingt müssen.

Das liegt daran, dass das Lesen für viele bildungsferne Eltern eine untergeordnete Rolle spielt. Damit fehlen den Kindern Lese-Vorbilder. Selbst wenn sie in die Schule kommen und lesen lernen, werden diese Kinder zu Hause oft nicht auf dieselbe Weise unterstützt wie Kinder aus bildungsnahen Familien. 

derStandard.at: Wenn Kinder aus bildungsfernen Familien weniger Zugang zum Lesen haben, bleiben ihnen Fertigkeiten und Wissen versagt, die für sozialen Aufstieg bedeutend sein können. Wie lässt sich dieser Kreislauf unterbrechen?

Ehmig: Für bildungsferne Kinder ist das Lesen weit weg von ihrer Lebenswelt, sie haben oft sogar eine negative Vorstellung vom Lesen. Unsere Vorstellung davon, wozu eine Handlung längerfristig gut und ob sie für uns relevant ist, ist erfahrungsgeprägt. Kinder aus bildungsfernen Familien finden Lesen oft langweilig, anstrengend und unattraktiv. Interessanterweise nehmen sie es aber als relevant für andere wahr.

Diese Kinder sagen: "Lesen ist etwas für die, die später mal etwas werden, die später studieren und eine bessere Schulbildung kriegen. Das hat mit mir nichts zu tun, denn mein Leben wird so nicht verlaufen." Ein Kind, das insgeheim denkt, dass das Lesen etwas für die "besseren Kinder" ist, wird nie ernsthaft damit anfangen. 

derStandard.at: Gibt es in der Gruppe der Eltern, die selbst wenig Bildung haben, unterschiedliche Zugänge zum Lesen? Und wie wirken sich diese auf die Kinder aus?

Ehmig: Wir haben untersucht, ob Kinder aus bildungsfernen Familien alle gleich ungern lesen. Das ist nicht der Fall. Der entscheidende Unterschied ist, wie in bildungsfernen Familien die Kommunikation und der Umgang mit den Kindern aussehen. In den Familien, in denen die Kinder lieber lesen, sprechen die Eltern viel mehr mit den Kindern, etwa über das Fernsehen und über das, was sie lesen.

Diese Eltern haben trotz der eigenen Bildungsferne ein Bewusstsein dafür, dass Lesen wichtig ist für die Entwicklung ihrer Kinder. Und sie haben relativ klare Erziehungsziele. Innerhalb dieser lassen sie ihren Kindern aber Spielraum - auch zur Mediennutzung. Diese Eltern sagen: Wenn mein Kind Lust hat, dann soll es ruhig fernsehen. In dieser Umgebung ist das Lesen ein integrativer Bestandteil der familiären Medienwelt. Trotz der Bildungsferne.

derStandard.at: Was passiert im Gegensatz dazu in bildungsfernen Familien, in denen Kinder nicht gerne lesen?

Ehmig: Dort ist das Wertekonzept nicht so klar definiert, zugleich reglementieren die Eltern ihre Kinder stark in Kleinigkeiten. Ich vergleiche das gerne mit einem Garten: In bildungsfernen Familien, in denen die Kinder gerne lesen, ist dieser Garten klar umgrenzt, da gibt es einen Zaun. Innerhalb dieses Gartens dürfen sich die Kinder aber austoben. Bei den Familien, wo die Kinder nicht gerne lesen, hat der Gartenzaun viele Löcher. Innerhalb des Gartens dürfen sich die Kinder aber kaum frei bewegen. Diese Eltern reglementieren ihre Kinder sehr stark und stimmen zum Beispiel viel öfter dem Satz zu: "Ich achte darauf, wie mein Kind gekleidet ist."

derStandard.at: Was können Menschen mit wenig Geld tun, um ihren Kindern Freude am Lesen zu vermitteln?

Ehmig: Der Schlüssel ist die Vorbildrolle. Den Lesestoff gibt es in den Bibliotheken, den muss man nicht kaufen. Es reicht aber nicht, die Medien den Kindern einfach vorzulegen. Die Eltern müssen ihn kommunikativ mit den Kindern erschließen. Man sollte mit seinen Kindern darüber sprechen, was sie machen und lesen.

Es spielt eine elementare Rolle, die Themen aufzugreifen, die von den Kindern kommen. Das Bildungsargument alleine bringt wenig. Es reicht nicht, den Kindern zu sagen: "Du musst viel lesen, damit du dann gute Bildungschancen hast." Die Kinder brauchen Vorbilder. Umso mehr, weil in sozial schwachen Haushalten die Bildungschancen von vornherein eingeschränkt sind. Das spüren diese Kinder.

derStandard.at: Vor welchen Herausforderungen stehen Kinder mit Migrationshintergrund, wenn es ums Lesen geht?

Ehmig: Neben sprachlichen Schwierigkeiten und fehlender Förderung in der Schule haben diese Kinder oft damit zu kämpfen, dass in manchen Herkunftsländern Lesen und Vorlesen eine untergeordnete Rolle spielen. Wir haben in einer Studie Eltern mit Migrationshintergrund aus verschiedenen Ländern gefragt, ob sie ihren Kindern vorlesen. Da hat sich gezeigt, dass unabhängig von der Bildung der Eltern die Herkunftsländer einen Einfluss haben.

Eltern aus dem russischen und osteuropäischen Raum lesen ihren Kindern sehr viel vor und erzählen ihnen regelmäßig Geschichten. Eltern aus dem türkischen Sprachraum lesen dagegen seltener vor - und zwar unabhängig vom Bildungsniveau. Türkischstämmige Eltern mit hohem Bildungsniveau lesen immer noch seltener vor als russische Eltern mit einfacher Bildung.

derStandard.at: Warum ist das so?

Ehmig: Natürlich ist es nicht so, dass türkische Eltern ihre Kinder nicht fördern wollen - im Gegenteil. Wir wissen, dass Eltern mit Migrationshintergrund sogar einen sehr starken Wunsch haben, dass ihre Kinder eine gute Bildung bekommen. Aber die Zuständigkeit dafür sehen Eltern aus bestimmten Herkunftsländern weniger bei sich selbst als vielmehr bei den Schulen und beim Staat. Der muss ihrer Ansicht nach dafür sorgen, dass ihre Kinder eine gute Bildung bekommen.

Das Selbstverständnis der Eltern als Bildungsakteure ist da weniger ausgeprägt. Das behindert natürlich den Erfolg von Bemühungen, diese Eltern zum Vorlesen zu bringen. Da müssen wir ein Bewusstsein vermitteln. (Lisa Mayr, derStandard.at, 18.10.2012)

Simone C. Ehmig (geb. 1964) leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der deutschen Stiftung Lesen. Sie studierte in Mainz Publizistik, Deutsche Philologie und Kunstgeschichte und arbeitete unter anderem zu politischer Kommunikation und Journalismusforschung.>

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14.12.2012: Märchen bieten Vorbilder und fördern neue Perspektiven: Mut, Zuversicht, Fantasie

aus: Die Welt online: "Was wären wir ohne": Warum Märchen auch uns Erwachsene verzaubern; 14.12.2012;
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article112026905/Warum-Maerchen-auch-uns-Erwachsene-verzaubern.html

<Märchen pflügen die Seele, damit auf ihr etwas wachsen kann von dem, was der Mensch zum Leben braucht: Mut zum Beispiel, Zuversicht und natürlich Fantasie. Ohne Märchen würde uns etwas Großes fehlen.

Von

Traurige Zeiten waren das, als Schneewittchen draußen bleiben musste. Als Rumpelstilzchen und der gestiefelte Kater in den Kinderzimmern ebenso unerwünscht waren wie all die anderen Botschafter eines vermeintlich reaktionären Weltbildes. Schwarze Pädagogik sei das, was die Märchen propagierten, überkommene Moralvorstellungen.

Und außerdem seien sie so schrecklich grausam. Nein, den Kindern, die lernen müssten, sich in einer antiautoritären Gesellschaft zurechtzufinden, könne man diese Geschichten nicht zumuten.

Das Beste, was den Kleinen passieren konnte

Zum Glück sind diese Zeiten längst vorbei. Spätestens mit Bruno Bettelheims Erkenntnissen, die er in Deutschland 1977 in seinem Buch "Kinder brauchen Märchen" veröffentlicht hat, bekamen die Bedenken der 68er-Pädagogen so viel Gegenwind, dass sich Eltern und Erzieher wieder trauten, die alten Geschichten vorzulesen.

Märchen, schrieb der US-amerikanische Psychoanalytiker, wüssten viel von den Nöten eines Heranwachsenden und breiteten gute Lösungswege aus. Dabei waren die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Geschichten, die sie am 20. Dezember 1812 erstmals als "Kinder- und Hausmärchen" herausgaben, gar nicht für Kinder gedacht.

Liebesgeschichten waren es, teilweise mit einer so eindeutigen Erotik, die keine Zweifel daran aufkommen ließ, dass Rapunzel und ihr Prinz im Turm Sex hatten, bevor die Zwillinge kamen. Die Grimm-Brüder haben die Märchen erst jugendfrei gemacht. Das ist einerseits bedauerlich, weil sie so für Erwachsene uninteressanter wurden. Andererseits war die Öffnung der Märchenwelt für Kinder das Beste, was den Kleinen passieren konnte.

Märchen malen Bilder in den Köpfen

Ohne Fantasie gäbe es keine Märchen, aber ohne Märchen hätten wir auch keine Fantasie. Märchen malen Bilder in Kinderköpfen. Und sie pflügen die Seele, damit auf ihr etwas wachsen kann von dem, was der Mensch zum Leben braucht. Die Zuversicht zum Beispiel, dass es immer eine Lösung gibt, mag die Situation auch so ausweglos erscheinen wie die Gefangenschaft im Bauch eines Wolfes.

Schaurig geht es in Märchen zu. Hexen wollen Kinder fressen, neidische Stiefmütter versuchen einfach alles, um die junge schöne Konkurrentin auszuschalten. Und in dem Märchen "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" spuken halbierte Zombies durchs Schloss.

Darf man Kindern das zumuten? Ja. Denn das Böse übertreibt im Märchen derart, dass es schon wieder komisch wird. So werden Märchen zum Spiel mit der Angst. Was gibt es Besseres, um sie zu überwinden?

Mal was trauen, mal was riskieren

Bevor es Superman und Meister Yoda gab, waren es die klassischen Märchen, die Vorbilder lieferten. Und wer den Vorteil hat, seine Fantasiewelt nicht nur aus Star Wars und Harry Potter zu speisen, der spürt noch heute, wie gut sich Märchenfiguren als Helden eignen. Ohne Märchen gäbe es diese frühe Identifikationshilfe nicht.

Die Forschung ordnet "Rotkäppchen" in die Kategorie der Warn- und Schreckmärchen ein, die Kinder recht drastisch daran erinnern sollen, immer schön brav zu sein. Tatsächlich lehrt das Märchen uns, dass das Schicksal es gut mit denen meint, die ihren eigenen Weg gehen, die sich was trauen, auch mal was riskieren.

Ob sie Aschenputtel heißen oder Goldmarie – all diese Mädchen sind unglaublich emanzipiert. Fällt die Spindel in den Brunnen, dann hüpft das Mädchen in "Frau Holle" hinterher, ins kalte Wasser, und landet in einer schönen Welt, die ihr alle Möglichkeiten bietet, glücklich zu werden.

Wenn die böse Stiefmutter samt Stiefschwestern Aschenputtel das Leben schwer macht und ihr nicht erlaubt, auf den Ball des Prinzen zu gehen, dann geht sie eben allein. Wer Märchen so liest, dem wird bewusst, wie viel Mut diese Geschichten in den vergangenen Jahrhunderten gerade weiblichen Lesern gemacht haben müssen.

Auf die innere Stimme hören

Märchen lehren uns, wie wichtig es ist, auf die innere Stimme zu hören, der Intuition zu folgen. Das vermittelt nicht zuletzt "Das Wasser des Lebens". In der Geschichte schickt ein todkranker König seine drei Söhne los, damit sie ihm jenes Elixier besorgen, das ihn allein retten kann.

Allen dreien begegnet jeweils ein Zwerg, der ihnen einen guten Tipp geben will. Aber nur der Jüngste, der Tölpel, nimmt den Zwerg ernst – und findet das Wasser, das dem Vater das Leben rettet. Er findet es, weil er achtsam ist für das, was ihn weiterbringt, und der Zwerg so unscheinbar war, dass die anderen ihn übersehen haben.

Was uns schon immer bewegt hat

Sterntaler, Brüderchen und Schwesterchen – jeder kennt diese Figuren und ihre Geschichten. Ohne Märchen würde uns ein gutes Stück Allgemeinbildung fehlen. Und zwar eine, der uns mit beinahe allen Kulturen verbindet. Die Inuit-Großmutter malt ihren Enkeln die gleichen Motive aus wie der Großvater in Botsuana.

Ohne Märchen hätten wir nicht dieses unschätzbare Zeugnis von dem, was Menschen schon immer und überall auf der Welt bewegt hat. Die Sehnsucht nach Erlösung gehört dazu, nach Befreiung aus einem Bann des Bösen. Märchen transportieren eine universelle Vorstellung von Moral, die in der schlichten Botschaft besteht, dass es sich nicht nur so gehört, rücksichtsvoll und hilfsbereit zu sein, sondern dass es sich auch lohnt.

Die vielleicht größte Botschaft von Märchen

Dass Märchen das so gut gelingt, hat vor allem damit zu tun, dass sie Kindern helfen, sich in Figuren hineinzuversetzen. Für den Gehirnforscher Gerald Hüther sind Märchen deshalb das beste Doping für die grauen Zellen. Diese Geschichten, die unter die Haut gehen, die selbst einen Zappelphilipp so in den Bann ziehen können, dass er mal stillsitzt.

Diese Geschichten fördern wie keine anderen das Einfühlungsvermögen in jene, die am Rande stehen, in Kranke, Arme und Unterdrückte. Der dänische Erzähler Hans Christian Andersen konnte das besonders gut, sein "Mädchen mit den Schwefelhölzern" rührt auch beim zehnten Lesen noch zu Tränen.

Und auch sein vermutlich erstes Märchen, "Das Talglicht", das erst in diesen Tagen zufällig im dänischen Nationalarchiv entdeckt wurde, lenkt den Blick auf ein bemitleidenswertes Wesen. Auf eine Kerze, die davon träumt, auch einmal zu brennen.

Das ist vielleicht die größte Botschaft der Märchen: dass es nichts Traurigeres gibt, als keinen Sinn in seiner Existenz zu finden – und nichts Tröstlicheres als die Tatsache, dass jeder eine Aufgabe hat in diesem Abenteuer, das Leben heißt und manchmal wie ein Märchen ist.>


Kommentar

Märchen stärken das Selbstbewusstsein oder Rollenspiele bei den Kindern, und stärken auch den Willen zum Lesen. Nun stelle man sich vor, dass die Kinder in den Entwicklungsländern und auch in den Schwellenländern die Kultur des Märchen-Vorlesens NICHT kennen, wobei die "USA" zum Teil auch ein Schwellenland geworden sind. Dort fehlen all die Märchen-Impulse. Viele Leute dort lesen nicht, dafür herrschen Computerspiele und Ballerspiele.

Komisch ist, dass dann auch die Gewalt in diesen Ländern oft um bis zum 10-Fachen höher ist als in Deutschland. Eine grosse Ausnahme sind die muslmischen Länder, die oft auch die Märchenkultur kennen, und oft ist die Gewaltrate auch dort nicht so hoch. 

Weihnachten und Osterhase sind leider nicht so glaubwürdig, aber Rotkäppchen und der Ofen von Hänsel und Gretel ja auch nicht. Also bleibt am Ende alles lebendige Fantasie.

Michael Palomino, 14.12.2012
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Fotoquellen
[1] Kinder lesen: http://www.domino-verlag.de/index.php?main=lehrer,lesefitness&navi=lehrer,lesefitness&titel=lehrer,lehrer

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