Kontakt / contact     Hauptseite / page
                    principale / pagina principal / home     zurück / retour /
                    indietro / atrás / back
zurückvoriges Kapitel    nächstes Kapitelnächstes Kapitel

"Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970

Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen

Kapitel 6: "Zur Zeit der Kastration war der homosexuelle Trieb aussergewöhnlich lebhaft"

Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970

Präsentation von Michael Palomino (2008)

Teilen:

Facebook







aus: Edition Sozialpolitik Nr. 7; Sozialdepartement der Stadt Zürich. Sozialberichterstattung '02; Bericht von Thomas Huonker, verfasst im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich.



Kapitel 6: "Zur Zeit der Kastration war der homosexuelle Trieb aussergewöhnlich lebhaft"

Sterilisationen, Kastrationen, Transplantationen und andere experimentelle medizinische Therapien an Geschlechtsorganen "Abnormer"

[Die kriminelle Psychiatrie bekämpft die "Onanie" durch Kastration und Sterilisation - die führende Rolle der kriminellen schweizer Psychiatrie für Kastrationen und Sterilisationen in Europa bis 1933]

Kastrationen und Sterilisationen wurden nicht nur "rassenhygienisch" oder medizinisch begründet oder als Möglichkeit der Wahl, ein Leben ohne Sexualität oder ohne eigene Kinder zu führen. Ein zentraler Aspekt war vielfach auch die erhoffte therapeutische Wirkung solcher Operationen und Experimente in Europa und den USA. Kastrationen und Sterilisationen sollten der Bekämpfung der Onanie dienen. Masturbation galt vielen Psychologen, Pädagogen und Medizinern des 18., 19. und noch des 20. Jahrhunderts als Ursache von Rückenmarkschäden und Geisteskrankheiten. Der Erfinder der Vasektomie [[Samenleiterunterbrechung]], H.C. Sharp, Gefängnisarzt für jüngere männliche Sträflinge in Jeffersonville, Indiana, wollte damit nicht nur die Fortpflanzung "Defekter" verhindern, sondern auch die Onanie unter den Anstaltsinsassen bekämpfen.

   (Endnote 647: Sharp 1909, Vasectomy, Sharp 1909, Sterilization. Vgl. auch Maier 1911, Gesetze, S. 16-17)

Mit Kastrationen von Männern wurde in vielen Ländern und gerade auch in der Schweiz zwecks Heilung von Tobsucht, Epilepsie, Neigung zu körperlicher Gewaltanwendung, Exhibitionismus und Homosexualität therapeutisch experimentiert.

Die Schweiz war in Europa, bevor Nazideutschland auch auf diesem Gebiet alles Bisherige überbot, das erste und lange führende wissenschaftliche Experimentierfeld für therapeutische Kastrationen. Dies belegt der Berner Chirurg Ch. Wolf in seiner Aufstellung von Kastrationen an Männern bis 1934 in der Schweiz, wobei er auch die Namen der Chirurgen angibt. In Zürich operierte meist Professor Clairmont, im Aargau Eugen Bircher. Zürcher Gutachter für Kastrationsfälle waren Charlot Strasse, John E. Staehelin und Hans W. Maier; in einem Fall erwähnt Wolf "Dr. Büchi, Amtsvormund, Zürich (mündlich)" als Gutachter.

   (Endnote 648: Wolf 1934, Kastration, S.156-157)

(S.153)

[Das Feindbild gegen die Onanie bei Frauen - Kastration mit Entfernung der Klitoris]

Kastrationen an Frauen, die in Theorie und Praxis einzelner englischer und deutscher Mediziner wie Isaac Baker Brown (1812-1973),

   (Endnote 649: Vgl. Baker Brown 1865, Curability)

Jonathan Hutchinson, A.J. Block und anderen auch die chirurgische Klitorisentfernung oder die Klitoriskauterisation umfassten,

   (Endnote 650: Szasz 1974, Fabrikation, S. 266, S. 416; Duffy 1963, Masturbation)

sollten die angeblich von der Gebärmutter ausgehende "Hysterie" sowie Lasterhaftigkeit, "Nymphomanie" und "Masturbatory Insanity" heilen, als deren Auslöser und Anzeichen die Masturbation galt.

[[Der Psychoterror der Kirche und anderer Religionen gegen die Sexualität wurde von der "wissenschaftlichen" Psychiatrie nie in Betracht gezogen. Die sexualfeindliche Bibel darf bis heute verkauft werden, ohne dass die sexualfeindlichen Textpassagen gestrichen werden müssten. Die internationale Staatengemeinschaft versagt total...]]


"wurde sie, um sie von ihrem Triebe zu befreien, zur Röntgenkastration ins Spital gebracht"

Mehrfachkastrationen, Transplantationen, Nachoperationen

Sterilisationen und Kastrationen wurden zu Heilzwecken auch bei als epileptisch, "kataton", "schizophren", "satiriasisch" oder "moralisch idiotisch" Diagnostizierten beiderlei Geschlechts vorgenommen. Generell war der Raum der Sexualität enger umgrenzt, und von daher wurden manche als "lasterhaft", "liederlich", "nymphoman", "pervers", "onanistisch", "exhibitionistisch" oder "sexuell übererregt" solchen therapeutisch begründeten Operationen unterzogen, deren Verhalten heute gesellschaftlich akzeptierte Nischen und Plattformen finden oder als im verbreiterten Bereich des Normalen befindlich eingestuft würde.

So wurde ein sexuell sehr aktiver und öffentlich onanierender Mann, der auch behauptete, "dass er 20 Frauen im Tag befriedigen könne" und dessen "hypertrophische Genitalien", insbesondere das "übermässig lange Glied" von den untersuchenden Ärzten als "bemerkenswert" eingestuft wurden, 1923 von Hans R. Schinz zunächst röntgensterilisiert und im März 1924 durch einen Chirurgen operativ kastriert.

   (Endnote 651: Frank 1925, Erfahrungen, S. 19-20)

[Sterilisation einer aktiven Frau, um die Frau "vor Nachkommenschaft zu schützen" - keine Relativierung der Aktivität nach der Sterilisierung - die operative Kastrierung relativiert die Aktivität]

Eine sexuell stark aktive Frau wurde zuerst aus "eugenischen" Gründen sterilisiert, nachher aber aus therapeutischen Gründen noch der Röntgenkastration und der chirurgischen Kastration unterzogen. Es handelt sich dabei um den "Fall XX" in der Dissertation des Burghölzli-Arzts Sigwart Frank:

"Geb. 1897, ohne Beruf, moralischer Schwachsinn mit Pseudologia phantastica. Besuchte Primar-, Sekundar- und zwei Jahre Handelsschule, kam gut nach. Schon mit 14 Jahren Verhältnisse, musste wegen Lues und Gonorrhoe behandelt werden. Arbeitete nicht gerne, konnte aber, wenn sie musste. [...]

Auf ein Gutachten unserer psychiatrischer Poliklinik hin wurde sie im Jahre 1920 in ihrem, des Vaters und der Waisenbehörde Einverständnis sterilisiert, um sie vor Nachkommenschaft zu schützen. In moralischer Beziehung besserte sich die Pat. aber keineswegs. Ihres Sexualtriebs wegen konnte sie nirgends mehr gehalten werden, weder in Versorgungshäusern noch in Privatstellen. [...]

Am 24. IX. 1923 wurde sie in der Irrenanstalt zu dauernder Internierung aufgenommen [...]

Über ihre sexuelle Vergangenheit führte sie obszöne Gespräche. In ihren sexuellen Erregungszuständen macht sie sich an andere sexuell ebenfalls leicht erregbare Mitpatientinnen heran und legte sich sogar zu einer solchen ins Bett. Am 10. XII. 1923 wurde sie, um sie von ihrem Triebe zu befreien, zur Röntgenkastration ins Spital gebracht. Dieses Verfahren brachte aber der Patientin keine

(S.154)

wesentliche Erleichterung. Der Patientin wurde die Kastration auf operativem Wege empfohlen, die sie am 6. II. 1924 ausführen liess. [...] Die Patientin beruhigte sich nachher sehr rasch und konnte entlassen werden."

   (Endnote 652: Frank 1925, Erfahrungen, S. 43-44)

["Experimentelle Kastrationen" und Hoden- / Eierstocktransplantationen]

Experimentelle Kastrationen wurden, auch in der Schweiz, mitunter mit experimentellen Transplantationen verbunden. So wurden Affenhoden implantiert. Hoden Homosexueller wurden, teilweise halbiert oder in Scheiben geschnitten, in Heterosexuelle transplantiert, und umgekehrt.

   (Endnote 653: Wolf 1934, Kastration, S. 111-113)

Ein Eierstock wurde in einen kastrierten Mann transplantiert; "die Frau bekam ihrerseits einen Hoden unseres Patienten."

   (Endnote 654: Wolf 1934, Kastration, S. 165)

Die Wirkungen dieser Experimente wurden durch Beobachtung weiterverfolgt, teilweise kombiniert mit nachträglichen Operationen zur erneuten Besichtigung der operierten und transplantierten Körperteile.


"Es besteht eben bei der konstitutionellen Homosexualität gar nicht das Bedürfnis, von dieser Triebanomalie loszukommen"

Diagnose Homosexualität

[Zwangskastration von Homosexuellen - die Homosexualität soll eine Geisteskrankheit sein - die Schlägerpolizei von Zürich hilft bei Razzien gegen Homosexuelle noch 1960-1963]

In der Untersuchungsperiode wurden auch (vor allem männliche) Homosexuelle therapeutischen Kastrationen unterzogen, selbst wenn sie keine Gewaltverbrechen begangen hatten. "Zur Zeit der Kastration war der homosexuelle Trieb aussergewöhnlich lebhaft und der 36jährige Mann beging fortwährend teils homosexuelle, teils onanistische Exzesse; daneben war er noch hochgradig kokainoman und deswegen körperlich und psychisch schwer heruntergekommen. Zwei Jahre nach der Operation fühlt er sich sehr glücklich, sein Trieb ist völlig verschwunden, nur noch selten in Träumen homosexuelle Vorstellungen, ohne Lustgefühl. Das Kokain konnte er sich restlos abgewöhnen (...) Patient sieht sehr gut, viel jünger als zur Operationszeit aus, der psychopathische Gesichtsausdruck ist weniger ausgeprägt. Arbeitet in der Anstalt mit Freude als Koch."

   (Endnote 655: Wolf 1934, Kastration, S. 188)

Homosexualität an sich galt als psychiatrischer Befund.

   (Endnote 656: Vgl. Lichtensteiger 1954, Erhebungen)

Homosexualität ist noch im amerikanischen Diagnosehandbuch von 1968 aufgeführt und wurde erst 1974 von der Liste der psychiatrisch relevanten Geistesstörungen gestrichen.

   (Endnote 657: Vgl. Shorter 1999, S. 449-453)

Entsprechende Auffassungen über Homosexualität als "chronische Abnormität"

   (Endnote 658: Benedetti / Wenger 1965, Homosexualität, S.70)

hielten sich auch in der Schweiz lange - teils unter Rückgriff auf Forschungen aus dem Dritten Reich.

   (Endnote 659: Vgl. Verschuer 1965, Erblichkeit)

Solche Einstufungen trugen mit dazu bei, dass die Stadtpolizei [[Schlägerpolizei]] Zürich noch in den 60er-Jahren "minuziös vorbereitete und schlagartig durchgeführte Grossaktionen gegen das Männermilieu" durchführte, die "zumindest in Europa ein gewisses Aufsehen" erregten und in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1960,am Abend des 15. November 1960 und in der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1963 stattfanden.

   (Endnote 660: Witschi 1965, Problem, S. 131-132)

[Die Erpressung Homosexueller zur Kastration bei der Drohung mit Dauerinternierung - keine gesetzliche Grundlagen - die kriminelle Zürcher Staatsanwaltschaft billigt die Kastrationen an Homosexuellen]

Auch Homosexuelle wurden mit der Alternative Dauerinternierung zur Kastration gezwungen:

"Nur unter maximalem äusserlichem Druck konnte sich L. zur Kastration entschliessen. Bei der ersten Begutachtung lehnte er rundweg und entschieden ab. Erst

(S.155)

als er vor die Frage gestellt war, dauernde Internierung oder Kastration, gab er nach. Es besteht eben bei der konstitutionellen Homosexualität gar nicht das Bedürfnis, von dieser Triebanomalie loszukommen."

   (Endnote 661: Thürlimann 1945, Indikation, S. 23 (Fall 16)

Die Zürcher Kastrationspraxis, für die ebenfalls nie eine gesetzliche Grundlage bestand, war der Billigung durch den langjährigen ersten Staatsanwalt Gerold Lüthy gewiss, hatte dieser doch in seiner einschlägigen Dissertation geschrieben:

"Sehen wir [...] als Grundlage für die Rechtmässigkeit des ärztlichen Eingriffs die Ausübung staatlich gebilligter Tätigkeit (und sachgemässer Heilbehandlung) an, wobei subsidiär auch noch das Handeln im Interesse und gemäss dem Willen des Patienten hinzutreten muss, so erledigt sich die in der Literatur so umstrittene Frage nach dem Rechtsgrund des Eingriffs."

   (Endnote 662: Lüthy 1937, Kastration, S. 34)

Lüthy sah insbesondere auch die Kastration männlicher Homosexueller

   (Endnote 663: Vgl. Lüthy 1937, Kastration, S. 60, S. 90)

als eine Form "staatlich gebilligter Tätigkeit".


"Wenn Sie sich kastrieren lassen, sind Sie morgen frei". Kastrationen von Zürcher Mündeln

[Kastrierung von Pädosexuellen - Internierung oder Kastration - die gelogene Psychiater-Formulierung "Freiwilligkeit" - Racheakte von Kastrierten]

Die therapeutische Kastration von (hetero- und homosexuell orientierten) Gewaltverbrechern, insbesondere im Zusammenhang mit Kindsmissbrauch und Gewaltverbrechen an Kindern, findet immer wieder Befürworter,

   (Endnote 664: Vgl. Christen 2000, Kastration)

auch unter den Tätern selbst. Wenn Cornu aber 48 von 69 in der Schweiz kastrierten Männern als "mit dem Eingriff zufrieden"

   (Endnote 665: Cornu 1973, Katamnesen, S. 114)

aufführt, so fallen darunter auch jene Fälle, welche die Operation gegenüber angedrohter Dauerinternierung vorzogen. So sagte ein kastrierter Landarbeiter, "er sei mit dem Eingriff zufrieden, da er sonst auf unbestimmte Zeit verwahrt worden wäre."

   (Endnote 666: Cornu 1973, Katamnesen, S. 38)

Thürlimann formulierte es so:

"In sämtlichen dieser Arbeit zugrunde liegenden Fällen" - das sind deren 31 - "handelt es sich um die 'freiwillige' Kastration. Von der Freiwilligkeit, im Sinne eines wirklich freien, eigenen Entschlusses, war aber in der grossen Mehrzahl der Fälle nicht viel vorhanden, da die Betroffenen durch den Zwang der Situation zum Entschluss gebracht wurden. Es gingen mehrfache Strafverfahren voraus, mehrfache Verwarnungen und Internierungen und zum Schluss konnte der Patient nur zwischen dauernder Internierung und Kastration 'frei' wählen."

   (Endnote 667: Thürlimann 1945, Kastration, S. 48)

Wolf allerdings warnte vor zwangsmässigen Kastrationen:

"Diese gegen ihren Willen Kastrierten können dauernd arbeitsunfähig werden und müssen doch interniert bleiben, für den Staat ist nichts gewonnen, wohl aber eine Arbeitskraft verloren, die vielleicht mit Geduld und später freiwillig angenommener Kastration hätte gerettet werden können."

   (Endnote 668: Wolf 1934, Kastration, S. 282)

In diesem Zusammenhang überliefert Wolf den Racheakt eines mit seiner Kastrierung Unzufriedenen:

"Beinahe wäre Zangger von einem unglücklichen Kastraten ermordet worden."

   (Endnote 669: Wolf 1934, Kastration, S. 282)

Heinrich Zangger war Professor für Gerichtsmedizin

(S.156)

an der [[bis in die 1970-er Jahre rassistisch-eugenisch orientierten]] Universität Zürich und hatte als Gutachter Kastration oder dauernde Internierung als sichernde Massnahme empfohlen.

   (Endnote 670: Frank 1925, Erfahrungen, S. 9)

[Kastration als Voraussetzung zur "Freiheit" - ein Patient wird "weichgeklopft" - die Erschleichung einer falschen Unterschrift zur falschen Einwilligung zur Kastration]

Ein heute bald 80-jähriges Mündel der Zürcher Amtsvormundschaft erlebte eine Jugendzeit mit vergröberter Sozialisation vorwiegend in Anstalten und vergewaltigte als junger Mann eine 72-jährige Mitinsassin. Der Zögling hatte während wiederholten Ausbrüchen einmal längere Zeit papierlos als Bauernknecht in Deutschland gearbeitet. In anderen Fluchtphasen ernährte er sich jeweils wochenlang von Wilderei, Einbrüchen in verlassenen Alphütten und dem Melken von Kühen auf der Weide. Das Mündel schildert den Vorgang, wie er vom Direktor der Strafanstalt Regensdorf zur Kastration gedrängt wurde, in seiner 1975 geschriebenen, mir in Kopie vorliegenden Lebensgeschichte wie folgt:

"der direktor sagte auch immer wider, s., sie haben einen guten stand, einen ganz guten, so besteht die möglichkeit, dass sie einmal frei herumlaufen können. aber sie müssen sich einer opperation unterzihen, nur dann werden sie frei, ich sagte aa, da ligt also der haken. ich beteuerte immer wieder, ich will aber nicht. er sagte dann werden sie eben nicht frei, sondern bleiben für immer hier oder in der irrenanstalt.

wahrscheindlich hatte die vomundschafsbehörde wegen diesem argument die zustimmung nicht geben wollen, dass ich frei werde? eines tages, musste ich zum direcktor auf das büro gehen, und er sagt zu mir herr s., wenn sie sich kastrieren lassen, sind sie morgen frei, das heisst sie müssen noch einige tage zur beobachtung hier bleiben, aber in der nächsten zeit werden wir sie frei lassen. ich verliess das büro, und ging ohne ein wort wider in meine zelle zurück.

Nach einigen tagen wurde ich wieder gerufen, zum direktor. Als ich sein büro betrat schmunzelte er mir entgegen mit, ja der s. hat sicher nichts mehr zu rauchen, da haben sie wieder für eine woche, er gab mir immer zu rauchen, ich musste mich nur aufs büro melden. er probierte mit allen mitteln, mich um seinen finger zu wickeln, warscheinlich mit der einspritzung der vormundschaft. ich sagte lange nein. ich musste mich mit der zeit nicht mehr melden auf sein büro, ich wurde gerufen, und so oft er konnte, es verleidete mir langsam, immer nur wegen des gleichen, auf sein büro gerufen zu werden. einmal, kam ich wider auf sein büro, und da sagte der direktor zu mir, s., wenn sie sich nicht der opperation unterzihen wollen, können wir sie auch zwingen?

nach ein paar wochen, rufte mich das schwein wider auf sein büro, und sagte zu mir, s., hier ist eine verfügung von zürich, die sie bitte unterschreiben wollen. ich habe aber bemerkt, dass es ein leres papier war, vielleicht war unter dem lehren papier ein beschribenes. er leugnete mich noch lange an, er sagte später, sie wollten eigentlich nur einmal eine unterschrift von mir haben.

ich unterschrieb den leehren fakel so grob, dass keine unterschrift herauskam, da nahm er meine hand, und half mir beim recht unterschreiben, ich sah an meiner handschrift an, das es nicht die welche ist, wenn ich selbst unterschreiben täte. er hat mich also hereingelegt. tatsächlich habe ich nachher gesehen, wie er unter dem lehren papier eine beantragung hervorgezogen hatte. dieser direktor ist schon lange nicht mehr der gleiche mit mir, wie er es vorher war.

nach zwei tagen war es dann so weit. 2 währter kamen in meine zelle und sagten, herr s., mitkommen. draussen musste ich

(S.157)

ein gefängniswagen besteigen, und dann ging es in die dermatologih in zürich, wo sie mich dann kastrierten, und das habe ich der verdammten vormundschaft zu verdanken."

   (Endnote 671: Lebensgeschichte von Paul S., S. 12-13)


Fallgeschichte Anton K.

"Verspricht, er wolle sich nun kastrieren lassen. Fragt bei der Abendvisite, ob man ihm garantieren könne, dass er dann nicht mehr exhibitionieren werde"

[Die Kastration wegen "ererbter übler Eigenschaften"]

Der Burghölzli-Aufnahmebogen von Anton K., Bürger von Zürich, Sohn eines Hoteliers, geboren 1897, beginnt mit diesen Worten:

"Aufnahmestatus 23.1.1918, Mittag. Pat. steht verlegen und niedergeschlagen im Aufnahmeraum, gibt über seine Personalien Auskunft; er werde auf Veranlassung Dr. Strassers hieher gebracht. Krank sei er nicht, er sei von Beruf Büreauangestellter, aber jetzt stellenlos, wohne in der Bürgerstube; seine Eltern seien tot, er sei im Waisenhaus erzogen worden. Als man ihm seine zahlreichen Streiche vorhält, sucht er sich auszureden, er habe keine rechte Erziehung erhalten, man müsse die Sachen anders beurteilen. Dabei hat sein Gesicht bald einen verlegen lächelnden Eindruck, bald kommen ihm Tränen in die Augen. Körperlich scheint Pat. schwächlich zu sein; am rechten Unterschenkel trägt er einen Gehapparat. Das linke Auge ist auffällig grösser als das rechte."

   (Endnote 672: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen, S. 4)

Jugend im Waisenhaus

Die Gesichtsassymmetrie von K. ging auf eine halbseitige Gesichtslähmung zurück, die er als Kind durchmachte. Die Prothese brauchte er seit einer Osteomyelitis [[Knochenmarkentzündung]], an der er nach dem Tod des Vaters (mit 10 1/2 Jahren) erkrankte. Die Mutter war schon vorher gestorben. Ausser einer kurzen Zeit bei seinem Onkel in Stuttgart lebte K. von 1908 bis 1916 im Zürcher Waisenhaus, die letzten zwei Jahre extern.

Waisenvater Pfarrer Bickel ging bei der Erziehung von K. und seiner Geschwister von deren "ererbten üblen Eigenschaften" aus.

   (Endnote 673: Vormundschaftsbericht Kinder K. vom 1.4.1913 bis 31.3.1916, Stadtarchiv, Bestand V.K.c.30, Dossier 4627a)

[[Viele Eltern meinten bis in die 1980-er Jahre, dass sich "üble Eigenschaften" von Vätern auf die Söhne oder von Mütter auf die Töchter vererben würden, und deswegen wurden viele Kinder geschlagen und Lebenslinien planmässig durch Psychoterror und körperliche Folter zerstört, manchmal auch totgeschlagen, nicht nur in Dumm-Deutschland. Erst in den 1980-er Jahren gab die kriminelle "Wissenschaft" der "Zivilisation" zu, dass Charakter nicht erblich sei...]]

K. schrieb in seinem Lebenslauf vom 24.1.1918:

"Im Kreise meiner lieben Eltern und Geschwister erreichte ich das 7. Altersjahr, dann starb meine Mutter. Nicht lange darauf heiratete mein Vater eine Tante, ich kam nach Mendrisio in ein Institut. Erst nach zwei Jahren durfte ich wieder zurückkehren. In der Familie war beständig Zank und Streit [...]. Als ich zehn Jahre alt war, [...] verlor ich meinen Vater. 14 Tage später bekam ich am rechten Bein Knochenmarkentzündung (Osteomyelitis) und man brachte mich nach fünfmonatlicher Kur nach Zürich in den Kinderspital. [...] Meine Stiefmutter hatte mich in dieser Zeit im Stiche gelassen."

   (Endnote 674: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Lebenslauf vom 24.1.1918)

Anton K. gab zahlreiche Heiratsannoncen auf, wechselte oft die Stellen, begann auf eigene Rechnung zu geschäften und arbeitete als Kinokontrolleur im Niederdorf. Auf der Suche nach Liebe stahl K. Geld aus der Briefmarkenkasse eines Arbeitgebers, um einer Cabaret-Tänzerin Blusen zu schenken. An eine Stelle aufs Land versetzt, näherte er sich Frauen und Mädchen als Exhibitionist.

[[Es fehlte dem Mann offensichtlich an soziologischen Kompetenzen, die er weder von den Eltern noch von Schulbüchern vermittelt bekam. Die kriminelle Psychiatrie sieht den Mangel aber nicht, sondern lässt einfach operieren...]]

[Die Zerstörung von Liebesbeziehungen durch die kriminelle Klinik Littenheid- die Isolation von K. - die willkürliche Internierung für weitere 2 Jahre - neuer Exhibitionismus und Definition von Unzurechnungsfähigkeit]

1921 kam er nach Littenheid, wo er Anschluss fand. [[Ein ärztlicher Bericht]]:

"Im Dezember 1920 wurde K. in die Anstalt Littenheid aufgenommen und es zeigte sich bald, dass das eine böse Acquisition [[Aufnahme mit schlimmen Folgen]] für die Anstalt war. Als ich im März die ärztliche Leitung der Anstalt übernahm, spielte er sich mir gegenüber als der unschuldig Verurteilte heraus, log alle die ihm zur Last gelegten Vergehen ab und verlangte von mir, dass ich unverzüglich Schritte tue, damit sein Prozess wieder aufgenommen werde. Da ich mir Zeit zur Ueberlegung und Beobachtung verlangte, fing er an zu weinen, es geschehe ihm nirgends recht, er werde immer falsch beurteilt.

Im Weiteren kam man einigen Liebesgeschichten auf die Spur, so mit der Katatonikerin [[Patientin]] M. aus Zürich,

[[Katatonie: Schizophrenie mit Krampfzuständen]]

bei deren Entlassung aus der Anstalt er einen grossen Auftritt verursachte und trotz seiner Schienenbandage am Hofgitter hinaufkletterte und es für sehr unbillig fand, dass man ihn nicht fortgelassen habe. Nachher schmuggelte er Briefe an die betr. Person und empfing von ihr feurige Liebesbriefe. [...]

Später wurde er überrascht, als er mit einem andern Fräulein auf die Heubühne gestiegen war, die Idylle wurde aber rechtzeitig entdeckt. Als dann die F. hierher kam, hatte sein Spürsinn auch sie rasch aufgestöbert und suchte er seine Gartenarbeit möglichst dort zu verrichten, wo er sie sehen konnte. Wir waren deshalb genötigt, ihn zu isolieren."

   (Endnote 675: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, ärztliches Zeugnis Littenheid vom 23.4.1921)

K. kam wieder ins Burghölzli:

"Hat sich bis jetzt durchaus anständig benommen. [...] Gibt zu, dass er unrechtmässig mit der M., der F. usw. verkehrte es sei aber ganz harmlos gewesen, hat jetzt noch grosse Freude daran."

   (Endnote 676: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S. 19-20, Eintrag vom 25.6.1921)

Es folgt der Eintrag vom 15. August 1921:

"Ist befriedigt, da ihm der Besuch der Frl. Z. gestattet wird und dass er ihr schreiben darf. Regt sich aber immer noch heftig über den Beschluss der Justizdirektion auf, nach dem er 2 Jahre interniert bleiben soll; entweder sei er krank, dann könne man den Termin der Gesundung nicht im voraus bestimmen, er könne von heute auf morgen gesund sein, dann solle man ihn eben entlassen. Wenn er aber nicht krank sei, dann hätte man ihn nach dem Gesetz bestrafen sollen, dann wäre er schon längst wieder frei."

   (Endnote 677: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S. 21)

[[Die schweizerischen Polizeibehörden dienten der kriminellen Psychiatrie in allen Bereichen...]]

Am 6. Februar 1924 wird Anton K. versuchsweise entlassen. Doch hat er dann "am Morgen des 18. Mai 1924 vor mehreren Telefonistinnen seinen Geschlechtsteil entblösst und daran manipuliert", wie die Verfügung der Direktion der Justiz des Kantons Zürich vom 4. Juni 1924 festhält. Es kam zu einem Strafverfahren, aber gestützt auf die Gutachten von Strasser vom 16. Februar 1916 und vom 1. Dezember 1920 sowie der Irrenanstalt Burghölzli vom 1. Februar 1920 stellte der Bezirksanwalt es wegen Unzurechnungsfähigkeit ein.

"Der Vormund hat den Anton K. am 24. Mai 1924 provisorisch in die Anstalt Burghölzli zurückverbringen lassen und beabsichtigt, dem Waisenamt Zürich die dauernde Versorgung des Bevormundeten in die Pflegeanstalt Rheinau zu beantragen. Die Direktion der Justiz, gestützt auf Art. 391 ff. der Strafprozessordnung, verfügt:

I. Von der Wiederinternierung des Anton K. in der Anstalt Burghölzli wird in zustimmendem Sinne Vormerk genommen.

(S.159)

II. Anton K. darf ohne Einwilligung der Justizdirektion nicht aus der Irrenheilanstalt Burghölzli, eventuell der Pflegeanstalt Rheinau entlassen werden."

   (Endnote 678: Verfügung im Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189)

[K. will die Kastration, um nicht mehr zwangsinterniert zu werden - die kriminelle Psychiatrie definiert K. als "moralisch defekt"]

Drei Tage nach seiner Wiedereinlieferung ins Burghölzli stellte K. seinem Amtsvormund Robert Schneider schriftlich den "Antrag auf Kastration [...]. Ich ziehe es vor, ein Opfer zu bringen, als mein ganzes Leben in Anstalten zu fristen und für immer ein unglücklicher Mensch zu sein."

   (Endnote 679: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Brief von Anton K. an R. Schneider vom 27.5.1924)

Im Burghölzli war man vorerst gegen die Operation:

"Ich habe mit dem Pat. die Kastrationsfrage wiederholt und sehr eingehend besprochen. Es zeigt sich deutlich, dass er nur gezwungenermassen in diese Operation einwilligen würde: Wegen der Befürchtung, sonst noch lange interniert bleiben zu müssen. Schon jetzt aber knüpft er bestimmte Bedingungen an seine Einwilligung zur Kastration - dass man ihn sofort entlasse und dass man sich - wie er mehr oder weniger verblümt seinem Vormund schreibt - sich dann des Rechts begibt, ihn wieder zu internieren, wenn er sich draussen nicht hält. Auch nach der Kastration ist der moralisch defekte haltlose Pat. aber jedenfalls nicht ein sozial brauchbarer Mensch, sondern könnte allerhand andere Delikte begehen, die eine neue Internierung erfordern. Wie wir ihm dies alles auseinandersetzen, rückt Pat. denn auch deutlich vom Kastrationsgedanken ab: Er leidet nicht unter seinem Trieb, sieht in ihm vielmehr eine wichtige Voraussetzung seines Lebensgenusses, auf die er nur unter Zwang, nicht aus Einsicht verzichtet. Angesichts des unberechenbaren und sehr querulatorischen Charakters des Pat. sind für den Fall der Vornahme der Kastr. sehr unangenehme Folgen - Querulationen wegen Körperverletzung etc., 'Erpressung' der Kastration etc. - ziemlich sicher zu erwarten."

   (Endnote 680: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen, S. 26, Eintrag vom 26.5.1926)

"Alles wie weggeblasen"?

Kurze Einträge in der Burghölzli-Krankengeschichte melden den weiteren Ablauf:

"Hat heute vom Abort im Souterrain unter G aus Patientinnen durch Versprechen, ihnen Birnen zu schenken, an das Fenster hergelockt und dann vor ihnen exhibitioniert. Wollte zuerst ableugnen, dass ers absichtlich getan, gestand dann aber."

   (Endnote 681: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S.26, Eintrag vom 27.10.1926)

"Ist sehr zerknirscht. [...] Verspricht, er wolle sich nun kastrieren lassen. Fragt bei der Abendvisite, ob man ihm garantieren könne, dass er dann nicht mehr exhibitionieren werde."

   (Endnote 682: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S.26, Eintrag vom 28.10.1926)

Am 8. März 1927 war es so weit:

"Die Kastration ist jetzt mit Einwilligung des Vormundes und des Waisenamtes vollzogen worden. Ganz glatter Verlauf. [...] War bis 16. Februar in der Chir. Klinik Zürich. Kastration am 2. Februar 1927."

Am 15. März 1927: "Drängt auf Entlassung."

Am 4. April 1927: "Wird heute gebessert entlassen."

   (Endnote 683: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S.27)

Vorgängig hatte K. in einem Brief an den damals im Burghölzli arbeitenden Hans Binder geschrieben, es sei nun "alles wie weggeblasen".

   (Endnote 684: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Brief Anton K. an Dr. Hans Binder vom 19.2.1927)

[Das Leben von K. nach der Kastration: Statt sexueller Übertreibungen kommt es zu Übertreibungen in anderen Lebensbereichen - das Gleichgewicht der Kräfte findet er nicht]

Nach der Kastration arbeitete K. zehn Monate lang im Büro einer Gärtnerei, anschliessend erzielte er ein gutes Einkommen als Vertreter.

(S.160)

Amtsvormund Schneider setzte grosse Hoffnungen in das Experiment:

"Wenn diese begonnene Entwicklung anhält, so wäre ein erfreuliches Resultat zu verzeichnen und ein 'Hoffnungsloser', der zusammen wohl 9 Jahre in Irrenanstalten zugebracht hat, wieder zu einem sozial brauchbaren Menschen gemacht."

   (Endnote 685: Vormundschaftsbericht vom 19.6.1928, Stadtarchiv, Bestand V.K.c.30, Dossier 6707b)

Im Gegenzug zu seiner Kastration wurde K. die Heirat erlaubt und die Bevormundung in eine Beistandschaft umgewandelt.

"An Ostern 1929 verlobte sich K. mit einer Fräulein R. Diese ist eine uns wohl bekannte Hebephrene, die kriminelle Tendenzen zeigt, im Besonderen sehr gut zu betrügen versteht. Es wurde deshalb von der Psychiatrischen Poliklinik aus mit der Vormundschaftsbehörde einer baldigen Verheiratung der beiden entgegengearbeitet und K. diese Ehe dringend abgeraten. Man einigte sich dann auf ein Probejahr, und da dieses scheinbar recht gut verlief, K. Fr. 900.- erspart hat und auch in letzter Zeit mit dem Vormund keine Anstände mehr vorgekommen waren, liess man im April 1930 die beiden heiraten.

Herr Prof. Maier hat sich damals dahin ausgesprochen, dass es sich bei K. um einen konstitutionellen Psychopathen handle und dass es vielleicht doch angebracht sei, ihm einmal maximal entgegenzukommen. Kinder seien ja in dieser Ehe nicht zu befürchten; umgekehrt sei sexuelles Zusammenleben möglich, da bei K. trotz der Kastration eine gewisse Potenz zurückgeblieben sei. Auch sei es wohl möglich, dass gerade diese zwei Menschen sich gegenseitig einen gewissen Halt geben könnten. Da die Bevormundung besonders geschäftlich sich ruinierend auswirkte, wurde auch deren Umwandlung in eine Beistandschaft beantragt."

   (Endnote 686: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Gutachten von Dr. Binswanger und Dr. Zolliker, 12.4.1933, S. 5-6)

"Führte das Leben eines reichen Mannes"

[Exzesse, Schulden, Freundinnen, Scheidung, Konkurs]

K. wurde Chef einer Reihe von Untervertretern und sein Geschäft florierte. Er kompensierte die Kastration mit Geld "und führte das Leben eines reichen Mannes",

   (Endnote 687: Stadtarchiv, Bestand V.K.c.30, Dossier 6707b)

was ihm der Fürsorger übel vermerkte.

"Im April 1931 trat dann der Glücksfall ein, dass K. die Vertretung der Mumbürste übernehmen konnte. [...] Er fing an, auf grossem Fuss zu leben, kaufte angeblich der Frau ein Perlenkollier usw. [...] Trotzdem hatte er aber Schulden, da seine Frau und er über die Verhältnisse gelebt hatten, Kino, Corso und Theater an der Tagesordnung waren, angeblich Champagner floss und K. Fr. 350.- in einer Woche verbrauchte. Daneben war er sehr anmassend, alimentierte Frauen, fuhr seiner Freundin nach und behandelte seine Reisenden derart frech und arrogant, dass eine Massenflucht derselben einsetzte. Der Beistand beantragte deshalb im April 1932 die erneute Bevormundung.

Eine Szene, die im März 1932 sich ereignete, soll doch noch festgehalten werden: Als K. mit seiner Freundin, Frau Y., im Zoo spazierte, traf das Unglück ein, dass er ausgerechnet im Affensaal mit seiner Frau zusammenstiess. Es kam zu einer grossen Skandalszene, wobei Frau K. ihren Mann und seine Begleiterin arg beschimpfte und von Zoowärterinnen weggeführt werden musste."

   (Endnote 688: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Gutachten Dr. Binswanger und Dr. Zolliker, 12.4.1933, S. 7 ff.)

Die Gutachter kamen zum Schluss, K. müsse zwar nicht wieder interniert, aber erneut bevormundet werden. "Zudem halten wir die Scheidung des K. für eine absolut erforderliche Massnahme." Zur anschliessend auch durchgeführten Scheidung sagte K.: "Als Kastrat sei es eben schwer gewesen, eine Frau zu finden, und jetzt bringe er es nicht übers Herz, sich von ihr zu trennen."

   (Endnote 689: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Gutachten Dr. Binswanger und Dr. Zolliker, 12.4.1933, S. 10)

Anlässlich seines Konkurses, seiner erneuten Bevormundung und seiner Scheidung verkaufte die Vormundschaft K.s

(S.161)

Wohnungseinrichtung, für die er über 4000 Franken ausgegeben hatte, für 1500 Franken.

   (Endnote 690: Brief Möbelhaus Mäerki-Bapst an Amtsvormundschaft, 30.5.1933, Stadtarchiv, Bestand V.K.c.30, Dossier 6707b)

K. heiratete dann noch drei weitere Male, teils unter Einspruch des Stadtrats,

   (Endnote 691: Vgl. Auszug aus dem Protokoll des Stadtrats, 15.6.1935)

und landete als Tablettensüchtiger und wegen mehreren Selbstmordversuchen immer wieder im Burghölzli und anderen Anstalten.

"Unter der Wirkung erheblicher Perandreninjectionen gelang ihm in der Ehe auch ein einigermassen normaler Sexualverkehr"

[Potent trotz Kastration dank chemischer Präparate - und die chemischen Präparate bewirken neuen Exhibitionismus - keine geistige Entwicklung bei K.]

K. hielt seine Potenz durch diverse Präparate aufrecht, etwa mit Perandrenlinguetten:

"Seit der Kastration habe er nicht die geringste Tendenz zu Exhibitionen mehr gespürt. Dagegen sei sein Geschlechtstrieb und seine Potenz wenig verändert worden. Sein Geschlechtstrieb habe sich eher in den letzten Jahren noch verstärkt. Er habe täglich Erektionen, besonders, wenn er ein schönes Mädchen sehe, sei z.B. auch vor seiner 3. Heirat einmal eine Nacht mit einem jüngeren Mädchen zusammengewesen, ohne dass sie das Geringste von seiner Operation gemerkt habe. Auch mit seiner 3. Frau habe er anfänglich regelmässig GV gehabt, und wenn er jeweils Perandrenlinguetten einnahm, sei es auch zu Ejakulationen gekommen."

  (Endnote 692: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S. 36, Zwischenanamnese vom 14.2.1951)

Aber nicht alle Ärzte verschrieben dem Kastrierten Hormonpräparate, mit denen er die Massnahme unterlaufen konnte. Ein privat praktizierender Spezialarzt für Psychiatrie schrieb am 9. September 1953 an die Burghölzli-Direktion:

"Es stellte sich dann allmählich heraus, dass er stets eine Reihe von Ärzten konsultiert [...]. Diese sind wohl darüber orientiert, dass Patient kastriert worden ist, aber nicht alle wissen warum. Patient verstand es nun immer wieder, Hormoninjectionen zur Behebung seiner körperlichen Beschwerden zu erhalten. Der Patient war ja auch nach der Kastration im Jahre 1927 drei Mal verheiratet und unter der Wirkung erheblicher Perandreninjectionen gelang ihm in der Ehe auch ein einigermassen normaler Sexualverkehr. Diese Möglichkeit hatte er nach seiner letzten Scheidung 1951 nicht mehr; Frauen, die ihn lieben können, sind etwas selten und für Frauen, die nur geschäftlich lieben, hat er zu wenig Geld. Pat. erhielt aber noch dieses Frühjahr erhebliche Perandrendosen (Kristallampullen). Dadurch wurde seine Libido sehr angeregt und es traten dadurch wieder die früheren exhibitionistischen Tendenzen auf. Aus Furcht vor einer Strafverfolgung kam dann der Pat. zu mir. Ich beruhigte ihn mit Sedin und als sein fast zwangsneurotischer Exhibitionstrieb zurückging, teilte mir der Pat. schon am 27.7.53 telefonisch mit, dass es ihm wieder tadellos gehe. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser schwere Psychopath früher oder später wieder einmal interniert werden muss."

   (Endnote 693: Brief im Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189)

Die Kastration hat somit K. keineswegs vor seinen exhibitionistischen Tendenzen bewahrt.

[[K. unternahm scheinbar nichts, um seine Triebe geistig in den Griff zu bekommen und die Energie für die Gesellschaft positiv umzuwandeln]].

Er konnte die mit der Verstümmelung bewirkten hormonellen Veränderungen chemisch rückgängig machen, und das psychische Problem von K. war gar nicht behandelt worden. In diesem Sinn hatte sich K. anlässlich einer Wiedereinlieferung ins Burghölzli bei Manfred Bleuler beklagt, dass er ja gar nicht therapiert worden sei:

"Er sei 7 Jahre da gewesen, er habe die Kastration machen lassen, damit er herausgekommen sei. Er habe sie verlangt, weil er genau gewusst habe, dass man ihm nicht helfen könne. Man habe ja nichts gemacht mit ihm, nur guten Tag und guten Abend

(S.162)

gesagt. [...] Er fühle sich hier wie in Gefangenschaft. [...] Ob Prof. Ble. glaube, er habe sich hier glücklich fühlen können? Er esse lieber draussen nur Kaffee und Brot als hier Beefsteak mit Ei. Man habe ihm hier ja nicht helfen können."

Bleuler ging darauf nicht ein, sondern fragte K., ob er als Demonstrationsobjekt an einer klinischen Vorstellung mitmachen wolle. K. war einverstanden. "Ob er dann etwas vormachen, etwas simulieren müsse? Prof. Ble. zuliebe mache er alles."

   (Endnote 694: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S. 43, Eintrag vom 22.2.1951)

[[Psychiater Bleuler wird für K. scheinbar zur Ersatz-Vaterfigur]].

[Der "wahrscheinliche" Rückfall]

1955, achtundzwanzig Jahre nach der Kastration, kam es zu einem Rückfall des Exhibitionisten im Rieterpark. K. wurde von der Polizei abgeführt.

"Auf dem Posten habe der Pat. gesagt, er erlebe den nächsten Morgen nicht mehr. Als man in die Zelle schaute, lag er auf dem Boden, dann stieg er aufs Bett und liess sich herunterfallen, tat auch, wie wenn er mit dem Kopf gegen die Wand rennen wollte. [...] Tel. Einweisender Arzt: Einw.grund war das Kopf-gegen-die-Wand-schlagen. [...] Erklärt, im Rieterpark lediglich uriniert zu haben, was bei ihm wegen seines Prostataleidens ein langwieriges Geschäft sei. Es sei der Verdorbenheit der heutigen Jugend zuzuschreiben, dass die Mädchen sich für diesen Vorgang interessiert hätten. [...]

Diagnose: Wahrscheinlicher Rückfall in Exhibition bei kastriertem, hysterisierendem Psychopathen. Kann von uns jederzeit entweder in Untersuchungshaft oder auf freien Fuss entlassen werden. [...] Nach telefonischer Rücksprache mit der Sittenpolizei wurde Pat. noch heute Nachmittag von der Sittenpolizei abgeholt. Am Abend erhielt ich ein Tel. des Pat., worin er mitteilte, dass er nach einer kurzen Einvernahme auf freien Fuss entlassen worden sei. Pat. bedankte sich weitschweifig für die ihm zuteil gewordene Pflege und betonte, dass im Burghölzli doch nicht mehr die unmenschlichen Methoden herrschen wie vor 20 Jahren."

   (Endnote 695: Staatsarchiv, Burghölzli-Patientendossier Nr. 15189, Aufnahmebogen S.53 ff.)

(S.163)

[[Die Psychiatrie hatte durch die Psychopharmaka "weichere" Methoden entwickelt, Menschen ruhigzustellen. Am Grundsatz des Psychoterrors gegen denkende oder uninformierte Menschen hat sich aber nicht viel verändert. Krieg wird z.B. immer noch nicht als Krankheit definiert, du dumme, kriminelle Psychiatrie...]]

Teilen:

Facebook







Quellen
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          153
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 153
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          154
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 154
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          155
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 155
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          156
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 156
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          157
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 157
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          158
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 158
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          159
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 159
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          160
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 160
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          161
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 161
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          162
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 162
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          163
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 163



zurückvoriges Kapitel    nächstes Kapitelnächstes Kapitel


^