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"Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970

Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen

Kapitel 3: "Die Schweiz hat gerade in dieser Bewegung eine bahnbrechende Rolle gespielt". "Rassenhygiene" und "Eugenik" in der Schweiz

Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970

Präsentation von Michael Palomino (2008)

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aus: Edition Sozialpolitik Nr. 7; Sozialdepartement der Stadt Zürich. Sozialberichterstattung '02; Bericht von Thomas Huonker, verfasst im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich.




Kapitel 3: "Die Schweiz hat gerade in dieser Bewegung eine bahnbrechende Rolle gespielt". "Rassenhygiene" und "Eugenik" in der Schweiz

[Die Entwicklung der Rassismus-Lehren an den Universitäten von Europa]

Schon in den bisherigen Zitaten aus Akten und Verlautbarungen der Zürcher Fürsorge finden sich Eheverbote und Hinweise auf amtlichen Druck Richtung Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch und Kastration im Zeichen der "Verhütung minderwertigen Nachwuchses". Zum Verständnis dieses Diskurses mit den Leitbegriffen "Eugenik=Rassenhygiene"

   (Endnote 153: Pflüger ohne Jahr, Glaube, S. 572)

von Stadtrat Paul Pflüger als "männlicher Glaube"

   (Endnote 154: Pflüger ohne Jahr, Glaube, S. 572)

gefeiert, und der entsprechenden Zwangsmassnahmen in der untersuchten Zeit ist ein Blick auf das weitere Umfeld des Zürcher Sozialwesens nötig, um dessen Eigendynamik und Einordnung im gesellschaftlichen Umfeld darzustellen.

Rassistische, die Gleichberechtigung aller Menschen bestreitende bevölkerungspolitische Theorien, die um Stichworte wie "Rasse", "Eugenik", "erbliche Minderwertigkeit", "menschliche Zuchtwahl", und ähnliche Begrifflichkeiten kreisen, standen im 19. Jahrhundert und in den ersten beiden Dritteln des zwanzigsten Jahrhunderts speziell in Metropolen von Kolonialreichen, aber auch in der Schweiz hoch im Kurs.

In einigen Forschungsgebieten prägten sie zeitweise den wissenschaftlichen Diskurs; im nationalsozialistischen Deutschland wurden sie zur Staatsideologie. Heute fallen viele der früher von weiten Teilen des psychiatrischen, anthropologischen und kriminologischen Wissenschaftsbetriebs vertretenen Inhalte in der Schweiz und in vielen anderen Ländern unter die nationalen und internationalen Bestimmungen der Rassismusstrafnorm; sie finden jedoch am rechten Rand des politischen Spektrums nach wie vor ihre Anhänger.

"Eugenik" und "Euthanasie" werden in neuerer Zeit, zwar unter Abgrenzung und dennoch in gewisser Kontinuität zu den ursprünglichen Prägungen dieser Begriffe, im Sinn einer "liberalen Eugenik" auch wieder befürwortet, so etwa vom australischen Bioethiker Peter Singer.

   (Endnote 155: Vgl. Kuhse / Singer 1985, Baby; Kuhse / Singer 1992, Euthanasie;Kuhse / Singer 2000, Bioethics. Vgl. dagegen Haberman 2001, Zukunft)

(S.58)

[[Es hat sich gezeigt, dass verschiedene Rassen verschiedene medizinische Bedürfnisse haben und verschiedene Behandlung brauche. Dies gilt auch für die Medizin gemäss Blutgruppen Es handelt sich also um eine gesundheitsfördernde Eugenik]].


"Was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen". Wissenschaft und Rassismus

[Darwin: "Wilde Rassen" sollen ausgerottet werden - Galton: "minderwertige" Menschen "ohne Lebensrecht" "ausmerzen" - der führende schweizer Rassismus-Darwinist August Forel - Forels Weltordnungsplan 1915 und Forels "Untermenschen"]

Das Denken von Charles Darwin, der die Lehre von der Evolution der Arten formulierte, war rassistisch geprägt. Er erhoffte sich von der Eroberung der Welt und der Erschliessung von Wüsten, Arktis und Urwald die Ausrottung sowohl der Menschenaffen wie der "wilden Rassen" durch die "zivilisierten Rassen".

"In einer künftigen Zeit [...] werden die zivilisierten Rassen [...] die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet und ersetzt haben. [...] Zu derselben Zeit [werden] auch die anthropomorphen Affen ausgerottet sein. Der Abstand zwischen den Menschen und seinen nächsten Verwandten [...] tritt dann auf zwischen dem Menschen in einem - wie wir hoffen können - noch zivilisierteren Zustande als dem kaukasischen, und einem so tief [...] stehenden Affen wie einem Pavian, anstatt wie jetzt zwischen dem Neger oder Australier und dem Gorilla."

   (Endnote 156: Darwin 1966, Abstammung, S. 203-204)

Darwins Vetter Francis Galton, der Begründer der "Eugenik", weitete die Vorstellung, dass "tieferstehende" Menschen in der Zukunft kein Lebensrecht mehr hätten, auf Kriterien innerhalb der "zivilisierten" Rassen aus. Die als "minderwertig" eingestuften Menschen waren für ihn nicht nur die "Wilden", sondern auch "kranke" oder "schwache" Angehörige der Herrenvölker. Die Zivilisation selber sei verweichlichend und fördere die "Kranken" und "Schwachen"; damit aber sei das gemeinsame Ziel der beiden Vettern, nämlich die Vorherrschaft der "Zivilisierten", gerade durch die Zivilisation selber in Gefahr. Also gelte es, innerhalb der Herrenrasse ebenfalls die "Schwachen" und "Kranken" "auszumerzen", damit diese sowohl "zivilisiert" als auch "gesund" und "stark" bleibe.

   (Endnote 157: Vgl. Galton 1865, Talent; Galton 1869, Genius; Galton 1883, Inquiries)

Pionier der Einpflanzung dieser darwinistischen oder sozialdarwinistischen rassistischen Theorien in das Wirken von schweizerischen Institutionen war August Forel.

   (Endnote 158: Vgl. zu Forel: Wettley 1953, Forel; Wottreng 1999, Hirnriss)

Der charismatische Psychiater und Ameisenforscher teilte die Verachtung der schwarzen Menschen mit Darwin. Forel schildert eine Reise von Jamaica nach Barbados 1896, also noch in seiner Zeit als Burghölzli-Direktor: Es "waren da eine Menge Neger und Mulatten aus Haiti, deren kindisches Geschwätz (in Französisch) rein zum Kranklachen war." - "Man wollte mich in eine Kajüte mit zwei Negern zusammenstecken. Ich konnte aber den Negergestank [...] nicht mehr ertragen."

Der zweite Offizier verschaffte Forel eine andere Kajüte.

   (Endnote 159: Forel 1935, Rückblick, S. 185, S. 184)

[[Beim Französisch auf Haiti handelt es sich um eine Mischsprache, dem Créole. Einheimische, einfach lebende Menschen haben andere Waschgewohnheiten als degenerierte schweizer Psychiater in weissem Hemd, Krawatte und lackierten Schuhen. Die Formulierung "Negergestank" ist also relativ zu sehen]].

Forels Programm für eine neue Weltordnung von 1915 sah im Punkt 8 eine entsprechende Rassenhierarchie vor:

"VIII. Internationaler Bund der Kultur- und kulturfähigen Rassen; humane Vormundschaft über niedere Rassen."

   (Endnote 160: Forel 1915, Erde)

Forel ist ein früher Benutzer des Begriffs "Untermenschen".

   (Endnote 161: Forel 1910, Eugenik, S.8)

Wie in vielen Fällen hat auch sein Rassismus eine antisemitische Komponente. Forel

(S.59)

reproduzierte antijüdische Stereotypen wie diese:

"Ihr merkantiles Wesen durchdringt auch ihre Geschlechtsverhältnisse, und wir finden sie eifrig beim Weiberhandel und bei der Prostitution betätigt."

   (Endnote 162: Forel 1905, Frage, S. 193)

[[Die jüdische Tätigkeit beim Frauenhandel und in der Prostitution ist für grosse Hafenstädte im 19. und Anfangs 20. Jahrhundert bis 1933 bzw. bis 1945 durchaus zutreffend, zum Beispiel in Argentinien; siehe: Encyclopaedia Judaica: Argentina]].

Forels Prestige war noch 1970, am Ende der hier untersuchten Periode, gross:

"Forel verdanken wir die Begründung der schweizer Psychiatrie, wie sie jetzt besteht."

   (Endnote 163: Walser 1970, Rheinau, S. 20)

[[Der Rassismus von Forel wurde nach 1945 nicht aufgedeckt, sondern die schweizer Institutionen, denen z.T. weiterhin die alten Rassisten der 1930-er Jahre vorstanden, deckten sich gegenseitig bis in den Tod. Die Schweiz wurde also nach 1945 nicht entnazifiziert, sondern weiterhin rassistisch regiert, z.B. in der Psychiatrie bis in die 1970-er Jahre]].

[Forels Tätigkeitsfelder: Ameisen, Pazifismus, Alkoholsucht, Eugenik mit Erblichkeitsthesen und Sterilisationen - Morel mit "Degenerationstheorie" und Lombroso mit dem "geborenen Verbrecher"]

Der charismatische, missionarische und beharrliche Forel hatte - neben anderen - vier Hauptanliegen: Die Ameisenforschung, den Pazifismus, die Ächtung des Alkohols und die "Eugenik".

Ameisenforschung trieb Forel nebenberuflich, aber als unbestrittene wissenschaftliche Kapazität. Als Pazifist schuf er sich im ärztlichen Kollegenkreis, seitens der Regierung und des Militärs viel Feindschaft. Weinbauern, Bierbrauer, Schnapsbrenner und Spirituosenhändler, die vor der Einführung der pasteurisierten Fruchtsäfte und der Softdrinks auf dem Getränkemarkt eine sehr starke Stellung hatten, zählten ebenfalls zu seinen Gegnern. Forel war lange eine prägende Figur von antialkoholischen Organisationen wie den Guttemplern oder dem Blauen Kreuz. Auch als Gründer von Institutionen zur Therapie von Alkoholsüchtigen wie der Trinkerheilstätte Ellikon, die heute nach ihm benannt ist, trug Forel viel bei zum markanten Rückgang des Alkoholkonsums seit dem ersten Weltkrieg. Erst in letzter Zeit steigt er in der Schweiz wieder stark an.

Als Vaterfigur der "Eugenik" in Europa wurde Forel lange kaum kritisiert. Noch in den 80er- und 90er- Jahren des 20. Jahrhunderts zeigte die schweizer Tausend-Franken-Note sein Porträt. Forels Auffassung, die meisten Geisteskrankheiten seien zwar unheilbar, aber erblich, und deshalb seien sie durch die Verhinderung der Fortpflanzung Geisteskranker zu bekämpfen, folgte Psychiatern wie Bénédict-Auguste Morel mit seiner Degenerationstheorie und Kriminalisten wie Cesare Lombroso mit seiner Lehre vom "geborenen Verbrecher". Lombroso besuchte Forel 1892 im Burghölzli.

[Die kriminellen "USA" sterilisieren Schwarze, Latinos und Indianer bis 1985]

Vor allem übernahmen Forel und seine Schüler wie August Ploetz, Ernst Rüdin, Eugen Bleuler oder Hans Oberholzer Techniken und theoretische Vorgaben zu Sterilisation und Kastration von "Minderwertigen" aus den USA. Dort wurden solche Massnahmen im Lauf der Jahrzehnte an Zehntausenden von Menschen durchgeführt, beginnend mit entsprechenden Operationen an Schwarzen. Noch die Fortführung dieser Programme in den USA zwischen 1970 und 1985 betraf in erster Linie Schwarze, Latinos und Indianer, wie es Stephen Trombley in seiner Gesamtdarstellung der Zwangssterilisation belegt.

    (Endnote 164: Trombley 1988, Right, S. 177, S. 187)

[Die Schweiz spielt in Europa die Vorreiterrolle bei der rassistischen Eugenik mit Erblichkeitsglauben]

In Europa hatte die Schweiz lange die Vorreiterrolle bei der "Eugenik", dann zogen die skandinavischen Länder gleich.

   (Endnote 165: Vgl. Broberg / Roll-Hansen 1996, Eugenics)

Schliesslich praktizierte Hitlerdeutschland von 1933 bis 1945 "Eugenik" und "Euthanasie", beginnend mit Hunderttausenden von Zwangssterilisationen, die es ab Kriegsausbruch mit hunderttausendfachen Massentötungen an Behinderten und Geisteskranken und mit millionenfachem Massenmord an angeblich "rassisch Minderwertigen" kombinierte.

   (Endnote 166: Vgl. Bock 1986, Zwangssterilisation; Kramer 1999, Verzicht; Klee 1983, Euthanasie; Klee 1986, Ärzte; Friedlander 1997, NS-Genozid)

(S.60)

[[Der Holocaust wurde dabei gegen Juden, Zigeuner und Sozialisten und Kommunisten durchgeführt, in Lagern durch Hunger, Seuchen, Entkräftung und Kältetod sowie durch Massenerschiessungen in ganz Osteuropa, 1943-1945 dann mit Massentod im Bunkerbau]].


Sterilisation und Kastration "Kakogener" und "Minderwertiger"

[Kastrationsgesetz in Kansas ("USA") ab 1855 - 1920 erlauben 15 "amerikanische" Staaten die Kastration von Männern und Frauen]

Joseph Mayer, ein katholischer Befürworter der "Eugenik", schildert 1927 in der Einleitung zu seinem Buch "Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker" von ihm erforschte "freilebende Geisteskranke": Sie "gleichen Orang-Utans. Ihre einzige Tätigkeit ist ausser dem Schlafen das Verschlingen grosser Mengen von Speisen."

   (Endnote 167: Mayer 1917, Unfruchtbarmachung, S. 4)

Mayer referiert die Anfänge der Massensterilisationen in den USA sehr detailliert. "Das führende Land in der Sterilisationsfrage ist Nordamerika [...] Schon im Jahre 1855 kannte das Territorium Kansas ein Gesetz, das Neger oder Mulatten für Notzuchtsverbrechen an weissen Frauen zur Kastration verurteilte."

   (Endnote 168: Mayer 1917, Unfruchtbarmachung, S. 177)

1882 operierte William Goodsell drei weiblichen Geisteskranken die Eierstöcke heraus und forderte eine gesetzliche Regelung "zur Beseitigung der erblichen Anlage zu Geistesstörungen".

   (Endnote 169: Mayer 1917, Unfruchtbarmachung, S. 178)

Mit politischen Erfolg:

"Bis 1920 war die Unfruchtbarmachung in 15 amerikanischen Staaten gesetzlich geregelt."

   (Endnote 170: Mayer 1917, Unfruchtbarmachung, S. 185)

Hans Wolfgang Maier, Arzt und später Direktor am Burghölzli, überlieferte Näheres:

"Die Berechtigung zur Vornahme solcher Operationen ist in Amerika in der Regel an gewisse Strafanstalten, Krankenhäuser und Irrenanstalten gebunden. Bis Ende 1920 seien in den USA "3233 solche Operationen an - wie der terminus technicus lautet - als 'kakogen' erklärten Individuen vorgenommen worden, 1853 bei Männern und 1380 bei Frauen, davon waren 3061 Sterilisationen und 172 Kastrationen; 403 betrafen Schwachsinnige, 2700 Geisteskranke und 130 Verbrecher."

   (Endnote 171: Maier 1925, Kastration, S. 201)

[1980: Klagen gegen Zwangssterilisationen werden in den "USA" abgewiesen - 60.000 Sterilisierte geschätzt 1855-1980]

Seit 1980 haben Opfer von Zwangssterilisationen in den USA vor Gericht geklagt. Die Klagen wurden abgewiesen, da die Zwangssterilisationen gesetzlich geregelt gewesen seien. Die Gesamtzahl der in den USA Zwangssterilisierten wird auf 60.000 geschätzt, viele Opfer waren "arm oder gehörten Minderheiten an".

   (Endnote 172: NZZ 9.2.2001, Bedauern, S.9)

Bis 1926 waren es 6244 Fälle, immer ohne die ungesetzlichen Zwangssterilisationen, die es in vielen US-Staaten ohne Regelung auch gab, mitzuzählen.

   (Endnote 173: Mayer 1927, Unfruchtbarmachung, S. 187)

Der US-Eugeniker Harry Laughlin schlug 1922 vor, dass immer rund ein Zehntel aller jeweils in den USA Lebenden zwangssterilisiert werden sollte. Er rechnete sein Programm bis 1980 durch. Wäre es nach ihm gegangen, wären bis dahin in den Vereinigten Staaten 15 Millionen Menschen zwangssterilisiert worden.

   (Endnote 174: Vgl. Lenz 1923, Rassenhygiene, S. 182-183; vgl. auch Laughlin 1922, Sterilization)

1932 empfahl Theodore Russel Robie die Sterilisation von 1 bis 2 Millionen "feeble minded" [["Schwachsinnigen"]] in den USA.

   (Endnote 175: Robie 1934, Sterilization, S. 201)

[[Die Arroganz gegenüber der Natur führt die "USA" in eine grosse negative Energie und somit dorthin, wo sie heute (2008) stehen: vor dem Untergang, weil zu viele Kriege angezettelt wurden]].

Ein männliches Netzwerk

[Forels Kastrationen in der Schweiz ab 1885 / 1892 "als erstes europäisches Land"]

Die Schweiz folgte den USA bezüglich Kastrationen und Sterilisationen "Kakogener" als erstes europäisches Land.

   (Endnote 176: Vgl. zur internationalen Ausbreitung der "Rassenhygiene" Kühl 1997, Internationale)

Kurz nach Goodsells ersten Kastrationen zwecks Beseitigung unerwünschter "erblicher Anlagen" praktizierte dies auch Forel, wobei umstritten ist, ob schon 1885, 1886 oder erst 1892.

   (Endnote 177: Vgl. Wottreng 1999, Hirnriss, S. 219-220)

Damals begann Forel sein soziales Ziel der Verminderung von Geburten "Minderwertiger" durch Kastrationen, später

(S.61)

durch Sterilisationen in die Praxis umzusetzen. Vermutlich bestellte er im Fall der 1892 kastrierten Frau

   (Endnote 178: Forel 1905, Frage, S. 381. Zum ebenfalls 1892 kastrierten männlichen Burghölzlipatienten vgl. die Schilderung von dessen weiterem Schicksal in: Oberholzer 1910, Kastration, S. 100-105)

seinen Konsiliararzt ins Burghölzli, den Gynäkologen Theodor Wyder (1853-1925), Direktor der Zürcher Frauenklinik, der in Zürich die ersten solchen Operationen machte.

   (Endnote 179: Vgl. Wyder 1891, Laparotomien)

Während Forel die Gleichberechtigung von Frau und Mann propagierte, war Theodor Wyder als Zürcher Professor für Gynäkologie (1888-1920) ein Feind des Frauenstudiums. Ricarda Huch schrieb über ihn:

"Der Gynäkologe, der ein Gegner des Frauenstudiums war und das auf eine sehr unfeine Weise äusserte [...], verflocht [...] unflätige auf sein Fach bezügliche Witze in seinen Vortrag, die [...] den Zweck hatten, die anwesenden Studentinnen zu verscheuchen oder mindestens zu beleidigen; denn sie konnten ja, ohne ihr Studium aufzugeben, auf diese Vorlesung nicht verzichten."

   (Endnote 180: Zitiert nach Köppel-Hefti 1988, Gynäkologe)

[ab 1900 ca.: Die Universität Zürich wird rassistisches Eugenik-Zentrum im rassistischen Netzwerk - Lehrstühle werden an Rassisten vergeben - Forel, Bleuler, Maier, Ploetz, Rüdin, Hauptmann]

Zentrale Figuren in einem medizinisch-juristischen Netzwerk, das vorwiegend Männer umfasste, von Zürich, Basel, Bern und Lausanne bis nach Chur und St. Gallen reichte und auch Verbindungen ins Ausland hatte, waren die vier Burghölzli-Direktoren in der Untersuchungsperiode dieser Arbeit:

-- August Forel (1878-1898)
-- Eugen Bleuler (1898-1926)
-- Hans Wolfgang Maier (1927-1941)
-- und Manfred Bleuler (1942-1970).

Sie und ihre Schüler machten Zürich zu einem Knotenpunkt der "Eugenik" in der Schweiz und in Europa. Sie alle waren auch Universitätsprofessoren. "Eugenik" und "Rassenlehre" standen an der Zürcher Universität auch in anderen Disziplinen im Vordergrund, so etwa beim 1899 mit einem Lehrstuhl für physische Anthropologie ausgestatteten Professor Rudolf Martin und dessen Nachfolger Otto Schlaginhaufen, spielten aber auch in der Gedankenwelt des Professors für Ethnographie Otto Stoll oder des Gerichtsmediziners Heinrich Zangger eine wichtige Rolle.

Das machte Zürich für aktive jüngere Rassenhygieniker wie Alfred Ploetz oder Ernst Rüdin interessant.

   (Endnote 181: Vgl. Zürcher 1995, Tradition; Keller 1995, Schädelvermesser)

Der "eugenische" Jüngerkreis ums Burghölzli zur Zeit der Jahrhundertwende ist mehrfach dargestellt worden. Neben den Hauptfiguren Alfred Ploetz, der die "Rassenhygiene" wie Forel mit sozialistischen Elementen, zusätzlich aber noch mit nordischen Ideologemen versetzte, und dem St. Galler Antialkoholiker Ernst Rüdin war auch der Dichter Gerhart Hauptmann gelegentlich dabei.

   (Endnote 182: Weingart / Kroll / Bayert 1992, Rasse, S. 189 ff.; vgl. auch Weber 1993, Rüdin; Weber 1995, Rüdin; Aeschbacher 1998)

[Menschen werden zu "Minderwertigen" gestempelt und als "Gefahr" definiert]

Das Programm, die "Inferioren", die "Untermenschen", die "Minderwertigen" einzudämmen, fand bei denjenigen, die sich für "höherwertig" hielten, auch darum weitgehende Akzeptanz, weil es sowohl mit sozialdemokratischen wie auch mit rechtskonservativen, mit wissenschaftlichen wie mit religiösen Ideologemen kombinierbar und in seinen simplen Grundthesen leicht aufzufassen war. Die "Eugeniker" und "Rassenhygieniker" betrachteten Irre, Süchtige, Behinderte und sonstwie von den damals oft recht rigiden Normen Abweichende nicht als Mitmenschen gleichen Werts, mit denen die Gesellschaft, in deutlicher Abgrenzung von Greueln antiker und neuzeitlicher Art, einen humanen und würdigen Umgang zu suchen habe, sondern als "Minderwertige" und als Gefahr, die es einzuschliessen und möglichst auszurotten galt.

(S.62)

[Ernst Rüdin wird zum Mitverfasser von Hitlers Rassegesetzen 1934 - Ernst Rüdins Kampf gegen die "Minderwertigen" 1898]

Schon die frühen Briefe Ernst Rüdins, des späteren Mitverfassers des offiziellen Kommentars zum deutschen "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses",

   (Endnote 183: Gütt / Rüdin / Ruttke 1934, Gesetz)

an seinen geistigen Mentor August Forel zeigen nicht nur die Abneigung des St. Gallers gegen "Unglück und Krankheit", die er ausrotten will, sondern auch gegen die daran leidenden Menschen. So Rüdins Brief vom 1. November 1890 zur St. Galler Gastronomie:

"Überall nur Wein-, Bier- und Schnapswirtschaften mit ihrem unsäglichen Qualm und der durch Menschengift und Alkoholduft durchschwängerten Luft."

   (Endnote 184: Forel 1968, Briefe, S. 245-246)

Oder in Rüdins Brief an Forel vom 11. November 1898:

"Vor allem drängt es mich, den bis jetzt noch sehr schlecht umschriebenen Begriff der 'Heredität' ('Anlage', 'Disposition' etc.) in palpable Factoren zu zerlegen; denn, scheint es mir, ist dies erst mal geschehen, so wird man die nötigen Hebel zu ihrer Entfernung finden können. Ich fühle einen tiefen Drang, Unglück und Krankheit an ihrer Wurzel auszurotten, den Drang, der mich seiner Zeit auch zum Abstinenten und Socialisten werden liess und noch macht."

   (Endnote 185: Forel 1968, Briefe, S. 332-333)

[[Eine Krankheit "an ihrer Wurzel" ausrotten heisst, die Menschen auszurotten, die die Krankheit haben. Bis heute (2008) verweigert die Psychologie aber die Definition von Krieg als Krankheit...]]

[Die falsche These, dass Kropf erblich sei, hält sich bis 1920]

Den Unterschied zwischen der Ausrottung von Krankheiten und der Ausrottung von Menschen brachte der Berner Chirurgieprofessor F. de Quervain - selber Befürworter von Kastrationen -

   (Endnote 186: Quervain 1934, Vorwort)

auf den Punkt. Kröpfe, unförmige Wucherungen im Halsbereich, wurden lange von Verfechtern der "Heredität" alles angeblich "Minderwertigen" [[?]] ebenfalls als Erbleiden aufgefasst. Doch Kröpfe entstehen bei Mangel an Jod in der Ernährung. Dies erkannten einzelne Forscher schon im 19. Jahrhundert, aber die Erblichkeitstheorien hielten sich noch lange. Erst ab 1920 stoppte man in der Schweiz die Kropfbildung durch prophylaktische Jodabgabe, z.B. als Zugabe dieses bei herkömmlicher Ernährung in Berg- und Binnenländern seltenen Stoffes zum Salz. Wäre man der früher aufgestellten Erblichkeitsthese gefolgt, schrieb de Quervain 1938, "so hätte man z.B. in Bern zur Zeit unserer Schuluntersuchungen [...] die Mütter von 94 Prozent der Schulkinder sterilisieren müssen [...]. Resultat: Ausrottung der Bevölkerung und Bestehenbleiben der Kropfursachen."

   (Endnote 187: Quervain 1938, Thyreopathie, S. 207)

(S.63)


Psychiatrische Querverbindungen zwischen der Schweiz und dem Nazireich

[Ernst Rüdin ab 1928 in München an der Zentrale "rassenhygienischer" Forschung - Rüdins Mitgestaltung beim "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" 1934 gemäss Zürcher Leitlinien (!) - Nazi-Lob und NS-Orden (1944) für Rüdins "Arbeit" in der deutschen Nazi-Psychiatrie]

Nach Praktikum am Burghölzli, Lehrtätigkeit in München und einigen Jahren als Direktor der Friedmatt und Psychiatrieprofessor in Basel wurde Ernst Rüdin 1928 Nachfolger Kraepelins als Direktor der Psychiatrischen Forschungsanstalt am "Kaiser-Wilhelm-Institut" in München. Er machte es zur Zentrale "rassenhygienischer" Forschung.

Adolf Hitler hatte 1924 im Abschnitt "Völkischer Staat und Rassenhygiene" von "Mein Kampf" geschrieben, der Staat habe alles, "was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen."

   (Endnote 188: Zitiert nach Bock 1986, Zwangssterilisation, S. 23)

Am 14. Juli 1933 erliess das Deutsche Reich das von Rüdin wesentlich mitgestaltete "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses".

(S.63)

[[Dumm-Deutschland weiss bis heute kaum, dass dieses Rassismusgesetz von 1934 in wesentlichen Teilen ein schweizer Rassismus-Produkt aus Zürich war, und in Zürich bereits "erfolgreich" angewandt wurde...]]

Es ermöglichte die gesetzeskonforme Zwangssterilisation von Hunderttausenden von Menschen, die von den "Erbgesundheitsgerichten" einer der folgenden Diagnosen unterstellt wurden:

"Angeborener Schwachsinn,
Schizophrenie,
zirkuläres (manisch-depressives) Irresein,
Erbliche Fallsucht (Epilepsie),
Erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
Erbliche Blindheit,
Erbliche Taubheit,
Schwere körperliche Missbildung,
Schwerer Alkoholismus."

   (Endnote 189: Gütt / Rüdin / Ruttke 1934, Gesetz, S. 108)

Hans Wantoch, Arzt im Asyl Wil, [[Kanton]] St. Gallen, bemerkte dazu:

"Bei der Abfassung des Gesetzes hat man sich offenkundig von den Richtlinien leiten lassen, die Rüdin schon vor Jahren [[in Zürich]] aufgestellt hat."

   (Endnote 190: Wantoch 1934, Sterilisation, S. 573)

Ab 1933 hatte Rüdin freie Hand bei der Ausrichtung der deutschen Psychiatrie auf die nationalsozialistische Programmatik.

"Herr Professor Rüdin hat [...] der Staatsführung des Dritten Reiches eine geschlossene Front wissenschaftlicher und praktischer Facharbeiter zur Verwirklichung des bevölkerungspolitischen Programms des Nationalsozialismus zur Verfügung gestellt. [...] So hat die deutsche Psychiatrie es seinem Weitblick und seiner Tatkraft zu verdanken, wenn sie im neuen Reich heute den Platz einnimmt, der ihrer hoher Bedeutung für die Verwirklichung der Ziele unseres Führers Adolf Hitler entspricht."

   (Endnote 191: Roemer 1939, Vorwort)

Am 19. April 1944 überreichte Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti Ernst Rüdin zum 70. Geburtstag den "Adlerschild des deutschen Reiches" mit der Inschrift "Dem Bahnbrecher der menschlichen Erbpflege."

   (Endnote 192: Festschrift 1944, Rüdin, S. 410)

[1933-1945: Bleuler ermöglicht Nazi-Publikationen in der Schweiz]

Ernst Rüdin und insbesondere auch Rüdins Schüler Hans Luxenburger blieben bis zu Eugen Bleulers Tod in brieflichem Kontakt mit ihm und später mit dessen Sohn Manfred [[Bleuler]]. Diese Kontakt führten zur Aufnahme eines speziellen Abschnitts "Eugenische Prophylaxe" in die 6. Auflage (1937) des berühmten "Lehrbuchs der Psychiatrie" von Eugen Bleuler aus dem Jahr 1916.

   (Endnote 193: Luxenburger 1937, Prophylaxe)

Luxenburger vertrat die deutsche "Rassenhygiene", wie sie ab Sommer 1933 praktiziert wurde, mit folgender Begründung:

"Ärztliches und rassenhygienisches Denken sind keine Gegensätze, sondern  notwendige gegenseitige Ergänzungen. [...] Die Heilkunde wird nur dann leben, wenn sie die Erbpflege vorbehaltlos in sich aufnimmt.

   (Endnote 194: Luxenburger 1934, Tagesfragen, S. 91)

Luxenburgers Beitrag zum Bleuler-Lehrbuch ist auch in der 7. Auflage von 1943 enthalten, gedruckt vom Springer-Verlag in Berlin. Luxenburger änderte wenig an seinen Ausführungen zur "Eugenischen Prophylaxe" in Bleulers Lehrbuch. Doch die "Eugenik" war 1943 in Deutschland schon seit mehreren Jahren in die "Euthanasie" respektive den Massenmord an Hunderttausenden von Kranken und Behinderten übergegangen.

Seine neuesten Forschungen von 1942 über die Psyche von Juden in Deutschland liess Luxenburger nicht in die neue Auflage einfliessen:

"Die grosse Häufigkeit des manisch-depressiven Irreseins unter den Juden und das Vorherrschen atypischer Bilder mit hysterischen und degenerativen Beimengungen dürfte heute wohl feststehen. [...] Auffallend ist die Neigung zum Selbstmord."

   (Endnote 195: Luxenburger 1942, Erbkrankheiten, S. 124)

[1945: Die Eugeniker rechtfertigen die Krankenexperimente mit der Praxis in den kriminellen "USA"]

Luxenburger verteidigte nach 1945 die nazistischen Krankenmorde, indem er zuhanden des Nürnberger Tribunals zusammen mit Erich Hahlbach eine Expertise anfertigte, worin er darauf verwies, dass "Euthanasie" durch Bindung und Hoche

   (Endnote 196: Vgl. Binding / Hoche, 1920, Freigabe)

schon vor den

(S.64)

Nazis propagiert und Menschenversuche auch anderweitig praktiziert worden seien, beispielsweise an Häftlingen in den USA.

   (Endnote 197: Vgl. Mitscherlich / Mielke 1960, Medizin, S. 251-252)

[[Und in den "USA" hörte die Eugenik mit 1945 nicht auf, sondern sie ging bis 1985 weiter, ohne irgendeinen Prozess!]]

[1941: M. Bleuler lobt die "Erbprognose" zur Sterilisation - Verschuer: Leitfaden der Rassenhygiene - Mandfred Bleuler streicht rassistische Passagen ab 1945 - hält aber an der Häufung in Familien und am Appell der Verhinderung von Nachwuchs fest]

Manfred Bleuler liess aber nicht nur Psychiater aus dem Nazireich in der Schweiz publizieren. Manfred Bleuler publizierte seine Basler Habilitationsschrift, die ihm die Professur in Zürich einbrachte, 1941 in Leipzig.

   (Endnote 198: M. Bleuler 1941, Krankheitsverlauf)

Und er veröffentlichte 1941 in der deutschen Zeitschrift "Der Erbarzt", wo Othmar Freiherr von Verschuer

   (Endnote 199: Zu Verschuer (und dessen Zusammenarbeit mit Mengele) vgl. Lifton 1988, Ärzte, S. 395-398)

als Schriftleiter amtete, den Artikel "Erbanalytische Forschung". Bleuler schrieb darin:

"Rüdin und Luxenburger haben, nachdem sich die Mendel-Forschung im engeren Sinne für die Erkenntnis der Ursachen der grossen Psychosen unfruchtbar gezeigt hatte, vorerst ein neues Ziel gesetzt: Die empirische Bestimmung der Erbprognose. [...] Die Kenntnis der Erbprognose gestattete es, unabhängig von der Kenntnis des Erbganges, die Notwendigkeit der Unfruchtbarmachung vieler Erbkranker festzustellen und hat damit die allergrösste praktische Bedeutung gewonnen."

   (Endnote 200: M. Bleuler 1941, Forschung, S. 13)

Im gleichen Jahr 1941 liess Othmar Freiherr von Verschuer seinen "Leitfaden der Rassenhygiene" erscheinen, in dem er die Tätigkeit eines "Erbarzts" so umschreibt:

"Die Tätigkeit des Erbarztes im Rahmen der Durchführung der rassenhygienischen Gesetze unterscheidet sich von dem sonstigen ärztlichen Handeln dadurch, dass sie keinen Heilerfolg, oft auch keinen sonstigen unmittelbaren persönlichen Vorteil für den Patienten mit sich bringt. [...] Es ist Sache des Arztes, das notwendige Vertrauen in den Patienten auszulösen, sie aufklärend hinzuführen zu der Einsicht in die unabwendbar Notwendigkeit ihres Opfers."

   (Endnote 201: Verschuer 1941, Rassenhygiene, S. 237)

Obwohl Manfred Bleuler bis ins hohe Alter von der Erblichkeit der Schizophrenie ausging und dazu Rüdin zitierte,

   (Endnote 202: Vgl. M. Bleuler 1972, Geistesstörungen, S. 582-583)

strich er seinen Artikel im "Erbarzt" ebenso aus einer Bibliografie seiner Werke,

   (Endnote 203: Vgl. M. Bleuler 1985, Literaturverzeichnis)

wie er Luxenburgers "Eugenische Prophylaxe" in späteren Ausgaben des väterlichen Lehrbuchs wegliess. Stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, ersetzte Manfred Bleuler diese Ausführungen in den Nachkriegs-Auflagen des wandlungsfähigen Standardwerks der schweizer Psychiatrie durch andere wechselnde Aktualisierungen seiner psychiatrischen Auffassungen, beispielsweise betreffend Psychochirurgie.

Aber noch in der 10. Auflage von 1960 hiess es im Lehrbuch:

"Viele psychische Störungen treten familiär gehäuft auf, wie die meisten Formen von Schwachsinn, viele Epilepsien, das manisch-depressive Kranksein, die Schizophrenie, viele Psychopathien. Bei ihrer Bekämpfung drängt sich die Forderung nach Beschränkung der Fortpflanzung der Kranken auf. [...]

In vielen Fällen wird die Gefahr der Fortpflanzung zu einem Bedenken gegen die Frühentlassung ungeheilter Geisteskranker aus der Anstaltspflege. Manchmal bringen Geisteskranke, Psychopathen und Schwachsinnige genügend Urteilsfähigkeit auf, um eine operative Sterilisation zu verlangen. Unter der Voraussetzung ihres Einverständnisses kann eine solche vom Standpunkt der geistigen Hygiene aus angezeigt sein, wobei freilich die lokalen rechtlichen Verhältnisse und die Weltanschauung der Beteiligten dafür entscheidend sind, wie weit hygienischen Gesichtspunkten allein nachgelebt werden darf."

   (Endnote 204: E. Bleuler 1960, Lehrbuch, S. 140)

(S.65)


"Als in der Aufsichtskommission einmal davon die Rede war, warum man diese Idioten und Senilen weiter füttere und pflege" - schweizer Erwägungen zur "Euthanasie"

[Schweizer Psychiater überlegen eine schweizer Euthanasie - Argument Todesstrafe - Bleuler bedauert die Nicht-Sterilisierung und die lebenslange Pflege von Psychiatriepatienten (1927)]

Bei Forel wie bei seinen Nachfolgern Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier sowie bei anderen schweizer Medizinern streiften Überlegungen zur "Eugenik" auch die Frage der Tötung "entarteter", "pathologischer" oder "ungenügender" Menschen. Mit Bedauern konstatierten sie den Rückgang von Todesurteilen in den letzten Jahrhunderten. Mehrfach wurde "Eugenik" auch als Ersatz für die direkte Beseitigung unerwünschter Mitmenschen angesehen.

Forel schrieb:

"Früher, in der guten alten Zeit, machte man mit unfähigen, ungenügenden Menschen kürzeren Prozess als heute. Eine ungeheure Zahl pathologische Hirne, die [...] die Gesellschaft schädigten, wurde kurz und bündig hingerichtet, gehängt oder geköpft; der Prozess war insofern erfolgreich, als die Leute sich nicht weiter vermehren und die Gesellschaft mit ihren entarteten Keimen nicht weiter verpesten konnten."

   (Endnote 205: Forel 1903, Hygiene, S. 186-187)

Eugen Bleuler schrieb:

Die Hinrichtung "befreit die Gesellschaft von der Sorge um den Delinquenten und gibt allein ganz sichere Gewähr gegen die Wiederholung des Verbrechens." Sie verhindere ferner "die Zeugung einer ähnlich gearteten Nachkommenschaft."

   (Endnote 206: E. Bleuler 1896, Verbrecher, S. 74-75)

Hans Wolfgang Maier schrieb:

"In früheren Zeiten wusste man sich radikaler gegen diese schädlichsten Glieder der menschlichen Gesellschaft zu schützen: Man tötete sie, schmiedete sie an die Galeeren, oder sie gingen nach zwangsweiser oder freiwilliger Expatriierung in fremden Ländern zugrunde."

   (Endnote 207: Maier 1908, Idiotie, S. 28)

Eugen Bleuler sah 1927 in der Rede zu seinem Rücktritt als Burghölzli-Direktor jene Patienten, die er wegen ihrer Besserung nicht an Ehe und Nachwuchs verhindern konnten, ebenso als negative Bilanz seiner ärztlichen Tätigkeit wie die Pflege lebenslänglicher Anstaltsinsassen:

"Das sei hier herausgehoben, was ich gerade durch meine Arbeit auf medizinischem Gebiet gesündigt habe (und was in analoger Weise jeder Arzt sündigt): gab ich mir doch in der Pflegeanstalt zwölf Jahre lang eine verzweifelte Mühe, Idioten und unheilbare Halluzianten am Leben zu erhalten, erstere den anderen Leuten, letztere sich selbst zur Qual! Im Burghölzli wiederum strengte ich mich an, möglichst viele Schizophrene so weit zu beruhigen oder zu erziehen, dass ein Teil derselben heiraten konnte und so sich, den Gatten und kommende Generationen unglücklich zu machen Gelegenheit bekam."

   (Endnote 208: Zitiert nach Debrunner 1961, Alkoholabstinenz, S. 28)

[1923: Euthaniasie-Antrag von Hauswirth im Berner Kantonsrat mit Argument Sparta - Sterilisierungsantrag von Hurni wird angenommen]

Im Kantonsrat Bern wurden an den Sitzungen vom 12. und 13. September 1923 "Eugenik" und "Euthanasie" gegeneinander abgewogen. Eine Motion des Berner Stadtarztes und Kantonsrats der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei Alfred Hauswirth verlangte, "unheilbare Geisteskranke und Idioten" zu töten.

   (Endnote 209: Vgl. Ziegler 1999, Frauen)

"Der Idiot, der komplett

(S.66)

schwachsinnige Mensch, der als solcher auf die Welt kommt oder infolge von Kinderkrankheiten in diesen Zustand verfällt, muss ein möglichst hohes Alter erreichen, wird aufgepäppelt, vielleicht mit der grössten Kunst, um ihn ja lange leben zu lassen, statt dass man das genau gleich humane Verfahren einschlagen würde, das die Spartaner lange vor uns eingeführt haben, nämlich dass man ihn rechtzeitig beseitigte."

Dasselbe "humane Verfahren" der Beseitigung sollte nach dem Vorhaben des Berner Stadtarzts auch "dem unheilbar Geisteskranken, der jahrzehntelang in einer Irrenanstalt vegetiert, seiner Familie und der ganzen Öffentlichkeit zur Last fällt", widerfahren.

   (Endnote 210: Zitate nach Keller 1996, Schädelvermesser, S. 153)

Der SP-Vertreter Hurni trat zwar dem Vorschlag Hauswirths entgegen, forderte aber die Unterbindung der "Weitererzeugung von Idioten".

   (Endnote 211: Meltzer 1925, Abkürzung, S. VI-VII)

Die "Euthanasie"-Motion von BGB-Stadtarzt Hauswirth wurde abgelehnt, eine mit lokalen Richtlinien versehene "eugenische" Berner Sterilisationspraxis spielte sich ein.

   (Endnote 212: Ziegler 1999, Frauen)

[Hunger-Euthanasie im deutschen Kaiserreich 1914-1918 - Ballastexistenzen - Friedrich Ris in Rheinau agiert gegen den Killer-Kurs]

Der "Euthanasie"-Diskurs nach dem ersten Weltkrieg war auch ein Echo darauf, dass die Leiter deutscher Irrenanstalten unter dem Vorwand kriegsbedingter Nahrungsknappheit 1914-1918 Tausende von "Patienten systematisch verhungern" liessen.

   (Endnote 213: Kramer 1999, Verzicht, S. 44)

Tötung von "Ballastexistenzen" und "Vernichtung lebensunwerten Lebens" forderten nicht nur die namhaften deutschen Psychiater Binding und Hoche als Wegbereiter der späteren Krankenmorde der Nazis

   (Endnote 214: Binding / Hoche, 1920, Freigabe)

und Stadtarzt Hauswirth, sondern auch Aufsichtskommissionsmitglieder der Klinik Rheinau.

Doch der dortige Nachfolger Bleulers, als Libellenforscher von ebenso grossem Rang wie der Ameisenforscher Forel, Friedrich Ris (1867-1931), Klinikdirektor in Rheinau von 1898 bis 1931, argumentierte anders:

"Es wird berichtet, dass Ris, als in der Aufsichtskommission einmal davon die Rede war, warum man diese Idioten und Senilen weiter füttere und pflege, aufgefahren sei und gerufen habe: 'Nein! Lang sollen sie leben, gut sollen sie es haben, nichts darf ihnen passieren!' "

   (Endnote 215: Walser 1970, Rheinau, S. 37)

Auch als der spätere Nachfolger von Ris als Rheinau-Direktor, Karl Gehry, aus "eugenischen" Überlegungen bei einer schwangeren "idiotischen" Insassin einen zwangsweisen Schwangerschaftsabbruch vornehmen wollte, widersprach Ris.

"Ich war der Meinung, man sollte einen Abort einleiten, bei der schweren Belastung durch Zeuger und Mutter. [...] Ris lehnte jeden Eingriff ab, da man nicht absolut sicher sei über die Minderwertigkeit des Foetus; 'wenn's ein Bub sei, könne er es gleichwohl zum Kantonsrat bringen!' "

   (Endnote 216: Schoop-Russbült 1988, Alltag, S. 29 (Der Text ist ein Zitat aus der Autobiografie Gehrys)

Friedrich Ris zeigte auch eine Assistenzärztin an, weil "sie einer unruhigen senil Dementen eine zu grosse Dosis Opium gab, worauf die Patientin sanft einschlief".

   (Endnote 217: Schoop-Russbült 1988, Alltag, S. 81 (Der Text ist ein Zitat aus der Autobiografie Gehrys)

Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein.

[Euthanasie - und die aktuelle Diskussion um die Sterbehilfe und Mordserien in Spitälern]

Vor diesem Hintergrund können bei der aktuellen Debatte um "Euthanasie" - etwas betreffend Aktivitäten der Organisation "Exit" oder anlässlich der Mordserie an senilen Dementen in Luzern, die im Sommer 2001 öffentlich wurde, - die geschichtlichen Bezüge zu "Eugenik" und "Euthanasie" nicht ausgeblendet werden.

   (Endnote 218: Schwank / Spöndlin 2001, Sterben; Eickhoff / Frewer 2000, "Euthanasie")

Am 11. Dezember 2001 lehnte der Nationalrat einen Vorstoss des SP-Fraktionschefs Franco Cavalli ab, der "aktive Sterbehilfe" straffrei machen wollte.

[[Sterbehilfe wird an unheilbar Kranken vollzogen, die aus ihrem eigenen Willen sterben wollen. Mit Euthanasie hat dies wenig bis gar nichts zu tun. Mordserien an Kranken in Spitälern dagegen sind Massenmorde ohne Einwilligung der Patienten und stellen einen Akt der kriminellen, mörderischen Selbstjustiz dar. Die Darstellung, dass Sterbehilfe kriminell sei, ist eine vereinfachte Schematisierung, die nicht den Tatsachen entspricht]].

(S.67)


"In einer gewissen Zwangslage, indem sie entweder zwischen dauernder Anstaltsinternierung oder Operation zu wählen hatten". Gesetzliche Zwangssterilisation, Freiwilligkeit und Einwilligung unter Druck

[1903: Rüdin fordert die Sterilisierung von Alkoholikern - Zwangskastrationen in der Schweiz aus sozialen Gründen ab 1905 - keine Körperverletzung trotz Todesfolge (!) - Absicherung der Sterilisationen durch die Behörden - Scheinoperationen mit heimlicher Sterilisation]

Was in vielen Staaten der USA rasch gelungen war, nämlich der Erlass von Gesetzesbestimmungen zu Sterilisationen und Kastrationen, scheiterte in Europa vorerst. Als Ernst Rüdin 1903 am internationalen Antialkoholkongress in Bremen die Sterilisierung von Alkoholikern auf gesetzlicher Grundlage forderte, wurde dies entrüstet abgelehnt. Hingegen beschloss die 36. Jahresversammlung der schweizer Irrenärzte in Wil aus Anlass eines Vortrags von A. Good am 13. Juni 1905 einstimmig, dass die Unfruchtbarmachung der Irren wünschenswert sei und dass die Frage der gesetzlichen Regelung bedürfe.

   (Endnote 219: Good 1910, Postulat, S. 159-160)

"Auf diesen Beschluss hin wurden dann in den Irrenanstalten des Kantons Zürich Unfruchtbarmachungen mit Einwilligung der Operierten und der Aufsichtsbehörden durchgeführt."

   (Endnote 220: Kankeleit 1929, Unfruchtbarmachung, S. 83)

1907 konnten die "Eugeniker" vier weitere "Kastrationen aus sozialen Gründen auf europäischem Boden" feiern, die wiederum in der Schweiz, und zwar im Asyl Wil, Kanton St. Gallen, vorgenommen worden waren.

   (Endnote 221: Mayer 1927, Unfruchtbarmachung, S. 195)

Eine der Operierten starb dabei.

   (Endnote 222: Oberholzer 1910, Kastration, S. 32-37)

[[Eine Sterilisierung mit Todesfolge galt nicht als Körperverletzung, aber die Schweiz galt als "Demokratie"...]]

Die 1910 genauer ausformulierten Vorschläge A. Goods - er verlangte zwecks gesetzlicher Unfruchtbarmachung trunksüchtiger oder geisteskranker Eheleute einen entsprechenden Passus im Strafgesetz - akzeptierte jedoch der Gesetzgeber ebenso wenig wie Jahrzehnte vorher Forels Entwurf für ein Irrengesetz.

So mussten die Praktiker der der schweizer "Eugenik" Wege finden, Geisteskranke und andere "Minderwertige" ohne gesetzliche Grundlage zu sterilisieren oder zu kastrieren. Sie taten dies, indem die Ärzte interne Standesregeln in dieser Frage ausarbeiteten. Auch koordinierten sie ihre Praxis mit den Behörden. Wo immer möglich, aber keineswegs in allen Fällen, brachten sie die zu solchen Operationen Gedrängten dazu, in die Massnahme einzuwilligen, oder sie versicherten sich der Einwilligung der Eltern oder des Vormunds der Betroffenen. Ferner vergewisserten sich die Mediziner bei den Juristen ihrer Umgebung, dass solche Operationen auch bei nicht medizinischer, sondern eben "sozialer" oder "eugenischer" Indikation wünschenswert und nicht etwa seitens der Justiz als Körperverletzung zu verfolgen seien, wie es in Deutschland fallweise vorkam,was die dortige Praxis vor 1933 teilweise bremste.

Aber auch "eugenisch" gesinnte deutsche Ärzte der Zeit vor 1933, wie auch Ärzte in anderen Ländern, operierten ohne gesetzliche Grundlage. So der spätere Naziarzt Boeters in Zwickau, der laut Mayer "bereits seit dem Jahr 1921 solche Eingriffe bei geistig minderwertigen Kindern und Erwachsenen beiderlei Geschlechts" vornahm, nämlich bis Mitte Mai 1925 deren 63.

"Um straffrei auszugehen, suchen Braun und Boeters in der Regel die Zustimmung des zu operierenden Patienten, womöglich auch seines Ehegatten zu erlangen; oder falls der Patient unzurechnungsfähig ist, operieren sie aus eugenischer Indikation nur dann, wenn ein Antrag der Vormundschaft und des

(S.68)

Bürgermeisteramts schriftlich vorliegt."

Mayer erwähnt noch einen anderen Weg, der auch in der Schweiz gelegentlich gewählt wurde: es "scheinen auch medizinische Scheinindikationen zum Vorwand genommen zu werden",

   (Endnote 223: Mayer 1927, Unfruchtbarmachung, S. 203)

beispielsweise Blinddarmoperationen.

Boeters empfahl, "über die stattgefundene Operation Stillschweigen - besonders auch von seiten der Familienangehörigen - zu bewahren."

   (Endnote 224: Maier 1925, Kastration)

[[Die heimlichen Sterilisierungen haben die Rassisten-Ärzte der Verunreinigten Staaten an Indianerfrauen noch in den 1980-er Jahren systematisch durchgeführt, um den Nachwuchs von Indianerstämmen möglichst niedrig zu halten]].

[Sterilisationen in der Schweiz: Dissertation von Oberholzer 1910 - Tod durch Sterilisierung bleibt ungeahndet - die legale Erpressung zur Sterilisierung mit Androhung lebenslanger Internierung oder Eheverbot]

Emil Oberholzers Dissertation von 1910 über "Kastration und Sterilisation von Geisteskranken in der Schweiz",

   (Endnote 225: Oberholzer 1910, Kastration)

die der vormalige Assistent am Burghölzli und spätere Arzt der Schaffhauser Klinik Breitenau unter Eugen Bleuler erstellt hatte, schildert Fälle aus der frühen schweizer und Zürcher Praxis.

Fall IV [[in Oberholzers Dissertation]] ist eine unter Heinrich Schiller (1864-1945), Direktor des Irrenasyls Wil (1892-1935), dort kastrierte Wäscherin, "hereditär [[erblich]] schwer belastet", die an der 1907 durchgeführten Operation starb.

   (Endnote 226: Oberholzer 1910, Kastration, S. 32-35)

Fall V [[in Oberholzers Dissertation]] ist eine ebenfalls in Wil kastrierte, als "Imbezille" [[frz. "Ungeziefer"]] bezeichnete Frau, "deren Schwachsinn aber nicht so hochgradig" war, "dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selber hätte verdienen können". Der Eingriff hatte laut Oberholzer "weder psychische noch körperliche Folgeerscheinungen". "Nach allem scheint die Kastration für ihre ganze Psyche irrelevant gewesen zu sein."

Zur rechtlichen Seite bemerkt der Arzt:

"Wie in allen Fällen des Asyls Wil, so ist auch hier die grosse Einfachheit des Prozedere in der Praxis bemerkenswert: Zustimmung der Kranken, der nächsten Angehörigen resp. deren Vertreter (Vormund) und der zuständigen Behörde (heimatliche Armenpflege, Gemeinderat etc.)".

Hinter der Zustimmung der "Kranken" und der Behörden steht die Drohung der medizinischen Diagnostiker, andernfalls müsse man "die Pat. dauernd internieren". Dann würden auch hohe Versorgungskosten anfallen. Die Operation bedeutete somit für die Behörden Kosteneinsparung. Für die Patientin war die Einwilligung der einzige Ausweg aus lebenslänglicher Internierung in einer Anstalt, wo sie litt: "Es gefiel ihr nicht im Asyl, sie weinte viel und war widerspenstig."

   (Endnote 227: Oberholzer 1910, Kastration, S. 35-37)

Den Psychiatern war der Zwangscharakter einer Wahl zwischen Dauerpsychiatrisierung oder Operation klar. Hans Steck, Direktor der psychiatrischen Klinik Cery bei Lausanne, sagte 1925 über Unfruchtbarmachungen im Kanton Waadt:

"Die beiden kastrierten Männer und einige der sterilisierten schwachsinnigen Mädchen gaben die Zustimmung in einer gewissen Zwangslage, indem sie entweder zwischen dauernder Anstaltsinternierung oder Operation zu wählen hatten."

   (Endnote 228: Protokoll 1925, S. 355)

Dieses Vorgehen vertrat auch Eugen Bleuler.Auch Zürcher Patienten wurden schon früh vor die Alternative Internierung oder Operation gestellt. Bleuler schrieb 1927 aus langjähriger Erfahrung heraus:

"Unter manchen Umständen, z.B. bei sexuell zügellosen Mädchen, aber auch gelegentlich bei Männern, wo die Operation eine Kleinigkeit ist, kann Sterilisation die Entlassung ermöglichen, so auch bei Oligophrenen; es ist aber Sorge zu tragen, dass sie in Erwägung der Umstände gut an die gesetzlichen

(S.69)

Normen angepasst werde, da die Materie noch nirgends klar und direkt durch Gesetze geordnet ist." Bleuler verwies auf das Eheverbot als weitere Handhabe:

"Wesentlich wird bei Ledigen sein, ob der Kranke heiratsfähig ist. In jedem Falle aber muss er die Operation selbst wünschen."

   (Endnote 229: E. Bleuler 1927, Anzeigen, S. 148)

Das Wünschen-Müssen, sterilisiert zu werden, hatte angesichts der Alternativen Dauerinternierung oder Eheverbot Züge der Erpressung, wenn die Operation, mit den entsprechenden Folgen, auch verweigert werden konnte.

[[Es war die absolute Erpressung, und zudem mit tödlichem Risiko]].

[1934: Der Deutsche Walter Kopp lobt die Pionierrolle der Schweiz bei eugenisch-rassistisch motivierten Sterilisierungen]

Aus Deutschland richtete Walter Kopp 1934 Worte der Anerkennung an die Schweiz für ihre "Pionierdienste" auf dem Gebiet der Unfruchtbarmachung.

   (Endnote 230: Kopp 1934, Unfruchtbarmachung, S. 98)

Damit meinte Kopp zum einen die Kastrationspraxis am Burghölzli, wozu er die Arbeit Hackfields

   (Endnote 231: Hackfield 1933, Kastration)

referiert, und zum andern

"die Sterilisationen mit Zustimmung der Behörden [...], die bei vielen Patientinnen die Anstaltsentlassung von der Bedingung der vorherigen Unfruchtbarmachung abhängig machten."

   (Endnote 232: Kopp 1934, Unfruchtbarmachung, S. 76)

[Minderjährige sollen nicht sterilisiert werden wegen möglicher Prozessfolgen bei Volljährigkeit]

Ausgehend von der Frage, ob auch Minderjährige unfruchtbar zu machen seien, erörterte Oberholzer die Risiken von Gerichtsverfahren gegen Sterilisatoren und Kastratoren seitens Betroffener:

"Mit ihrer Volljährigkeit gelangt die Kranke aber in den Besitz der Handlungsfähigkeit [...]. Dann ist damit zu rechnen, dass sie ihre Sterilisation bereut und sie als ungesetzlich angreift. Was dann? Hierher gehört auch die Möglichkeit der zivilrechtlichen Haftbarmachung von seiten der Operierten oder ihrer Angehörigen."

   (Endnote 233: Oberholzer 1910, Kastration, S. 55)

[Die schweizer Rassisten-Psychiater wünschen ein nationales Sterilisationsgesetz, das aber nie kommt - "Sterilisierung  zu Heilzwecken" ist keine "Körperverletzung" (!) - Sterilisationsgesetz im Kanton Waadt 1928-1985 (!)]

Wie Good erhoffte sich Oberholzer eine gesetzliche Regelung zur Beseitigung der Furcht unter den aus "sozialen" oder "eugenischen" Gründen sterilisierenden und kastrierenden Ärzten, sie könnten wegen Körperverletzung eingeklagt werden.

"Nach der jetzigen strafrechtlichen Praxis [...] fällt der ärztliche Eingriff in die körperliche Integrität nicht unter den Begriff der strafbaren Körperverletzung, bleibt also straflos, sofern er zu Heilzwecken im Sinne der medizinischen Wissenschaft erfolgt.

Dagegen besteht bezüglich des weder durch das Gesetz noch durch die Praxis geschützten Eingriffs der Sterilisation und der Kastration, der an sich einen Heilzweck im obigen Sinn nicht verfolgt, eine vollständige Rechtsunsicherheit. [...] Die Sterilisierung eines Geisteskranken kann heute, auch nach aller formellen Deckung, die möglich ist, immer noch daran scheitern, dass der beigezogene Chirurg aus rechtlichen Gründen zurückschreckt."

   (Endnote 234: Oberholzer 1910, Kastration, S. 55)

In diese Richtung zielte der Aufsatz von Hans Wolfgang Maier von 1911 über "Die nordamerikanischen Gesetze gegen die Vererbung von Verbrechen und Geistesstörung und deren Anwendung". Maier trug diese Arbeit schon im November 1910 mündlich der juristisch-psychiatrischen Vereinigung in Zürich vor.

"In der sich anschliessenden Diskussion traten sämtliche anwesenden Vertreter der theoretischen und praktischen Jurisprudenz für die zweifellose Berechtigung und die grosse soziale Wichtigkeit der amerikanischen Versuche in dieser Richtung ein; der Wunsch, dass auch in

(S.70)

europäischen Staaten mit der Zeit und nach genügender Aufklärung der Öffentlichkeit in grösserem Massstabe ähnliche Bestimmungen eingeführt würden, war bei Juristen und Medizinern gleich lebhaft."

   (Endnote 235: Maier 1911, Gesetze, S. 4)

[[Aber]] einzig im Kanton Waadt einigten sich Juristen, Mediziner und Politiker auf eine Gesetzesbestimmung zur legalen Durchführung der Sterilisation von Geisteskranken als Zwangsmassnahme. Am 3. September 1928 wurde Artikel 28, Ziffer 2 ins Waadtländer Gesetz über die Behandlung von Geisteskranken von 1901 eingefügt.

   (Endnote 236: Vgl. Ehrenström 1993, Eugénisme; Gasser / Heller 1997, Débuts; Jeanmonod 1928, Stérilisation)

Die vorberatende Kommission bezog sich dabei ausdrücklich auf die US-amerikanischen Vorbilder,

   (Endnote 237: Vgl. Bulletin 1928, Séances)

auf Schriften des Genfer "Eugenikers" F. Naville

   (Endnote 238: Vgl. Naville 1925, Stérilisation; Naville 1925, Étude; Naville 1935, Castration; Naville 1935, Rapport)

sowie auf Burghölzli-Direktor Maier.

   (Endnote 239: Vgl. die "Motivierung" des Kantonsrats Waadt zum Gesetz, das dort auch wiedergegeben ist, in: Zurukzoglu, 1938,Verhütung, S. 264-265)

Das neue Gesetz wurde von den "Eugenikern" und "Rassenhygienikern" als das erste Gesetz auf dem Boden Europas in ihrem Sinn begrüsst [[und fand rasch Nachahmer. Die "demokratische", korrupte Schweiz hatte also in der Rassismus-Eugenik auch juristisch die europäische Vorreiterrolle]].

[Europäische Sterilisationsgesetze ab 1932 - "Gesundheitsgesetze" in den Kantonen FR, NE und AG - "ärztliche Richtlinien" zur Sterilisation in der Schweiz ab 1981]

Rasch folgten 1932 Polen, 1933 Deutschland, 1934 Schweden und Norwegen, 1935 Dänemark und Finnland mit Gesetzen zur Zwangssterilisation [[mit oder ohne Erpressung bzw. Alternative zur Dauerinternierung oder Heiratsverbot]].

Im Kanton Waadt blieb das Gesetz bis 1985 in Kraft und führte in 178 Fällen zu Beschluss und Durchführung der Unfruchtbarmachung; in 191 Fällen wurde die Operation vom zuständigen Gremium abgelehnt.

Mit Ausnahme dieser Phase im Waadtland gingen Sterilisationen und Kastrationen somit in der Schweiz in einer gesetzlich nicht geregelten Grauzone vor sich, gemäss Usanzen [[Gewohnheitsrecht]] und Richtlinien, die mehr aus internen Absprachen als aus öffentlichen Debatten hervorgingen und die dementsprechend erst jetzt langsam ins öffentliche Bewusstsein gelangen. In allerneuester Zeit erliessen allerdings einige Kantone Bestimmungen zu Sterilisation und Kastration in neu revidierten Gesundheitsgesetzen (Freiburg, Neuenburg, Aargau).

1978 wurden durch Presseberichte Sterilisationen von Minderjährigen in der Klinik St. Urban im Kanton Luzern öffentlich bekannt.

   (Endnote 240: Vgl. Muri 1978: Minderjährige; Schwank 1996, Diskurs, S. 476)

In Reaktion darauf verabschiedete die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaft 1981 "Medizinisch-ethische Richtlinien zur Sterilisation". Diese statuieren:

"Fehlt eine rechtsgültige Einwilligung des Patienten zur Sterilisation, so stellt der Eingriff eine schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 Ziffer 1 des StGB dar und kann Schadenersatz- oder Genugtuungsansprüche nach sich ziehen."

Weiter sagen die Richtlinien:

"Geistig gesunde, urteilsfähige Personen können über die Vornahme einer Sterilisation frei entscheiden, was sie unterschriftlich zu bestätigen haben. Der Arzt muss sich dabei vergewissern, dass die gesuchstellende Person nicht unter Druck gesetzt ist."

Zur Sterilisation geistig Behinderter erklären die Richtlinien:

"Vermag ein geistig Behinderter die Tragweite des Eingriffs zu beurteilen, so kann er allein darüber entscheiden, ob der Eingriff ausgeführt werden soll."

Betreffend Minderjährige und Entmündigte heisst es:

"Bei urteilsfähigen Minderjährigen

(S.71)

oder Entmündigten ist, wenn immer möglich, für die Zustimmung zum Eingriff das Einverständnis der Eltern oder eines Vormundes einzuholen."

Bei Urteilsunfähigen, also bei gänzlich verwirrten Geisteskranken oder bei geistig Schwerstbehinderten, sagten die Richtlinien:

"Bei Urteilsunfähigkeit ist der Eingriff unzulässig".

In Zweifelsfällen "empfiehlt es sich, eine eingehende konsiliarische Abklärung durch einen Psychiater zu veranlassen."

[[Damit wird dem Psychiater wiederum die Macht zugespielt, über die Sterilisation zu entscheiden]].

Im Jahr 2000 wollten Teile der [[schweizerischen]] Ärzteschaft diese Richtlinien dahingehend abändern, dass Sterilisation auch von Einwilligungsunfähigen möglich sei. Nach Protesten in der Öffentlichkeit wurde aber ein Entwurf für neue Richtlinien wieder zurückgezogen und die von 1981 blieben in Kraft, ergänzt durch zusätzliche Empfehlungen. Unter Verweis auf das derzeit in Ausarbeitung befindliche neue Vormundschaftsgesetz heisst es dort:

"In Anbetracht der heute noch bestehenden Gesetzeslücke soll derzeit in diesen Fällen eine Sterilisation unterbleiben."

   (Endnote 241: Die Richtlinien von 19981 und die Empfehlungen von 2001 finden sich in der Schweizerischen Ärztezeitung, Jahrgang 82/2001, Nr. 12, S. 542-544)

[Die Praxis der Zwangssterilisationen, Zwangskastrationen und Schwangerschaftsabbrüchen in der Schweiz- das ärztliche "Berufsrecht" zur Sterilisation]

Im Untersuchungszeitraum bestand in der Schweiz, ausser 1928-1985 im Kanton Waadt, dazu [[zur Durchführung von Sterilisationen]] keine gesetzliche Grundlage, und dennoch wurden Tausende sterilisiert und eine kleinere Zahl von Betroffenen kastriert. Die Befürworter und Handhaber dieser Praxis waren bestrebt, dazu die Einwilligung der Operierten zu erlangen, wenn es auch Fälle gibt, wo diese nicht vorliegt oder von den Betroffenen bestritten wird. Vor allem aber geht schon aus den bei Oberholzer angeführten frühen Fallgeschichten hervor, dass dabei, beispielsweise mit der Drohung längerer oder dauernder Anstaltsinternierung, Druck auf die Betroffenen ausgeübt wurde und die Operationen somit Zwangscharakter hatten.

In keiner der von mir untersuchten Fallgeschichten war die Sterilisation ein von den Betroffenen her kommender Wunsch. Solchen Wünschen, geäussert von Personen, die nicht fürsorgerisch oder psychiatrisch betreut wurden, standen die involvierten Ärzte vielmehr häufig ausgesprochen ablehnend gegenüber, ebenso wie gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen auf Wunsch der Frau. So äusserte sich der St. Galler Gynäkologe P. Jung im Rahmen standespolitischer Debatten zur "Frage einer Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über therapeutischen Abort und Sterilisation" wie folgt:

"Sehen wir ab von der Seelentheorie der kirchlichen Judikatur, so wird trotzdem auch der heutige Staat die Frucht schützen müssen, im Interesse seiner selbst, des Bestandes und der Entwicklung seiner Angehörigen, denn diese werden zweifellos durch die straffreie Abtreibung ernstlich gefährdet", sie führe "mit Sicherheit zum Ruin", sie würde "zu einer Lockerung unseres Staatsgefüges führen, seine Fundamente untergraben und seinen Zerfall beschleunigen."

   (Endnote 242: Jung 1922, Frage, S. 878)

Zu solchen Argumentationen bemerkte Jahrzehnte später der St. Galler Jurist Bernhard Roth:

"Einem Recht des Staates auf Nachwuchs müssten konsequenterweise der Koitus- und Gebärzwang, das Verbot der Anwendung antikonzeptioneller Mittel, Bestrafung des Selbstmordversuches und das Verbot der Auswanderung entsprechen."

   (Endnote 243: Roth 1950, Schwangerschaftsunterbrechung, S. 35)

Jung schrieb ferner, die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs sei "auch eine

(S.72)

schwere moralische und soziale Schädigung der Frau." Zu erwägen sei sie hingegen "bei Geisteskrankheit und Geistesschwäche nach Art. 97 ZGB und Art. 369 ZGB."

   (Endnote 244: Jung 1922, Frage, S. 878)

Zur Sterilisation sagte Jung hingegen:

"Die Schweizerische Gynäkologische Gesellschaft hält [...] prinzipiell an ihrem früheren Standpunkt fest, dass der Arzt aus seinem Berufsrecht zur Sterilisation legitimiert sei."

   (Endnote 245: Jung 1922, Frage, S. 882)

[Die freiwillige Sterilisation wird bei gesunden Frauen z.T. verweigert - Beispiel Kanton Zürich mit Gebärzwang von 3-4 Kinder - wo aus rassistisch-eugenischen Gründen abgetrieben wird, soll auch gleich sterilisiert werden - Erpressung zwischen Gebärzwang und Abtreibung mit Sterilisation]

Im Kanton Zürich war die Praxis gegenüber Frauen, die von sich aus, weder aus medizinischer noch aus "eugenischer" Indikation, sondern aus ihrer individuellen eigenen Lage und Einschätzung heraus eine Sterilisation wünschten, etwa ab 1930 bis in die sechziger Jahre laut dem Psychologen Herbert Eberhart folgende:

"1. Die Patientin sollte mindestens 30 Jahre alt sein und drei oder mehr lebende Kinder geboren haben.

2. Die Patientin muss psychisch 'normal' sein.

3. Der Wunsch muss vernünftig begründet sein.

Von beiden Ehegatten muss zudem ein schriftliches Einverständnis zur Operation vorliegen.

Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so hat sich die Patientin einer sorgfältigen Untersuchung an der Psychiatrischen Poliklinik des Kantonsspitals Zürich zu unterziehen, damit eine allfällige Kontraindikation festgestellt werden kann."

   (Endnote 246: Eberhart 1968, Verarbeitung, S. 12)

Dieser psychiatrischen Begutachtung mussten sich zwischen 1953 und 1963 30 Prozent der von sich aus sterilisationswilligen Frauen unterziehen, die dann auch unterbunden wurden;

   (Endnote 247: Eberhart 1968, Verarbeitung, S. 17)

Eberhart gibt aber nicht an, wie viele der sterilisationswilligen Frauen insgesamt psychiatrisch untersucht wurden und wie vielen der Untersuchten ihr Wunsch verweigert wurde.

Bei dieser Ausgangslage bildete sich im Untersuchungszeitraum in Zürich und wahrscheinlich auch in anderen Regionen eine Verknüpfung zwischen Abtreibungs- und Sterilisationspraxis aus "eugenischen" Gründen aus, wie sie bereits Oberholzer skizziert hatte. Er befand,

"dass die gefürchteten Konsequenzen des gesetzlich tolerierten Abortes ungleich höher in Anschlag zu bringen sind als diejenigen der operativen Verhütung der Fortpflanzung, wo aus äusseren und technischen Gründen ein Missbrauch fast ausgeschlossen und eher zu bekämpfen ist. Abort und Sterilisierung können deshalb nicht als gleichwertig betrachtet werden, und es ist wohl begründet, mit der Einleitung des Abortes, wo es sich um diesen allein handelt, möglichste Zurückhaltung zu üben, dagegen da, wo die die Entfernung der Frucht wegen Gefährdung der Nachkommenschaft durch die Vererbung geschehen soll, zugleich die Sterilisierung zu verlangen."

   (Endnote 248: Oberholzer 1910, Kastration, S. 47-48)

Da der Schwangerschaftsabbruch schlimmer sei als die Sterilisation, wurde letztere gleich auch noch vorgenommen, um weitere Schwangerschaftsabbrüche zu verhüten.

Somit wurde oft der ärztliche Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft nur dann vorgenommen, wenn die Schwangere gleichzeitig in ihre Sterilisation einwilligte. Auch die Alternative Gebärzwang oder Sterilisation war ein beträchtliches Druckmittel und

(S.73)

machte die angesichts dieser Alternative durchgeführten Sterilisationen ebenfalls zu Zwangseingriffen.

Eine gründliche Untersuchung von Roswitha Dubach anhand von Akten der Aargauer psychiatrischen Klinik Königsfelden zeigte, dass "95 Prozent der ledigen Frauen zur Zustimmung gedrängt oder gezwungen wurden. Bei den verheirateten Frauen lag die Quote der Zwangseingriffe bedeutend tiefer, bei 56 Prozent."

   (Endnote 249: Dubach 2001, Sterilisation, S. 82)

Aber bei Frauen mit hohem Arbeitspensum, vielen Kindern oder schlecht bezahltem, erwerbslosem oder arbeitsscheuem "Ernährer", welche eine Sterilisation selber wollten, galt wieder, dass der Eingriff, wie beim Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der Frau, nur gemacht wurde, wenn er auch ins bevölkerungspolitische Konzept der darüber Entscheidenden passte.

[Die Angst vor dem Aussterben bei nur 2 Kinder pro Familie - 1919: Staehelin definiert die Zuwanderung als "kranke Erbmasse"]

Bevölkerungspolitische Doktrinen wurden in Gremien wie der von der Schweizer Ärztekammer 1919 eingesetzten, aus Juristen und Medizinern bestehenden "Kommission zur Bekämpfung des Geburtenrückgangs in der Schweiz" formuliert. Manche Bevölkerungspolitiker sahen die Schweizer nicht nur vom Überhandnehmen der "Minderwertigen", sondern auch vom Aussterben bedroht. In solcher Optik galt schon ein Durchschnittswert von zwei Kinder pro Ehepaar als Gefahr.

Der Basler Psychiatrieprofessor und Direktor der Klinik Friedmatt John E. Staehelin meinte, "dass ein Volk, bei dem das Zweikindersystem generell durchgeführt ist, zum Aussterben verurteilt ist."

   (Endnote 250: Staehelin 1938, Psychopathen, S. 155)

Die Grenzstadt Basel sah Staehelin zusätzlich von "Zugewanderten und den durch Einheirat Schweizer gewordenen Frauen" bedroht, die "kranke Erbmasse mitbringen, durch welche die alt eingesessene Bevölkerung geschädigt wird."

   (Endnote 251: Staehelin 1938, Psychopathen, S. 156)

[Sterilisationen, Kastrationen und Schwangerschaftsabbrüche ohne Gesetzesgrundlage durch Ämterunion - wo kein Gesetz existiert, wird mehr sterilisiert, kastriert und die Schwangerschaft abgebrochen - Präzedenzfälle werden zur Leitlinie]

Es ist eigentlich erstaunlich, dass "Eugeniker", "Rassenhygieniker" und "Bevölkerungspolitiker" vor allem im Zeitraum von 1910 bis 1945, aber auch schon vorher und noch lange nachher, in der Praxis der Fürsorge und in Disziplinen wie der Psychiatrie, der Chirurgie und der Anthropologie, eine führende und prägende Rolle spielen konnten. Sie betonten ja selber immer wieder, Volk und Zeit seien noch nicht reif für entsprechende Gesetze. Sie hatten - ausser im Kanton Waadt - keinen legalen Rahmen und keine demokratische Legitimation für ihr Tun.Und trotzdem waren sie Leitfiguren in den Bereichen Psychiatrie, Chirurgie oder Anthropologie.

Wie ist das zu erklären?

Viele ihrer Erfolge erreichten die "Eugeniker", weil sie eine Gruppierung bildeten, die von oben nach unten wirkte. Sie waren Akademiker, Fürsorgechefs, Stadtärzte, Klinikleiter, Offiziere, Universitätsprofessoren. Oft konnten sie in hierarchisch strukturierten Machtbereichen ihre Ideen rasch und wirkungsvoll umsetzen. Und gerade dort, wo sie dies ohne gesetzliche Regelung tun konnten, also in der ganzen Schweiz ausser im Kanton Waadt, war die Durchführung der entsprechenden Operationen schneller und in höherer Anzahl möglich.

(S.74)

[[und die Ärzte mussten sich auch nicht vor Bestrafung oder Verfolgung fürchten, weil eben kein Gesetz existierte. Ohne Gesetz war die Hemmschwelle niedriger]].

Dazu schrieb der Basler Schularzt Carl Brugger:

"Die Tatsache, dass einerseits im Kanton Waadt trotz oder vielleicht gerade wegen der dortigen gesetzlichen Regelung nur ganz selten eugenische Unfruchtbarkeitsmachungen vorgenommen werden, dass andererseits in Zürich ohne besondere Regelungen Erbgeisteskranke und Schwachsinnige relativ häufig sterilisiert werden, zeigt am besten, dass in unseren Verhältnissen mit einer gesetzlichen Regelung allein nicht viel gewonnen ist."

   (Endnote 252: Brugger 1939, Erbkrankheiten, S. 98)

Gelegentlich bremsten Regierungsstellen diese Vorgänge leicht ab, ohne sie aber zu unterbinden; sie gaben damit gleichzeitig einem Teil der Operationen oder anderen "eugenischen" Massnahmen auch ein Stück politische Legitimation.

[[Präzedenzfälle werden zur Leitlinie]].

[Bernisches Armenwesen: Die planmässige Erpressung zur Sterilisation mittels Drohung von Entzug von Unterstützungen oder Versetzung in Arbeitsanstalten - rassistisch-eugenische Sterilisierung soll erlaubt sein]

Der Direktor des bernischen Armenwesens, Dürrenmatt, erliess am 5. Februar 1931 ein Kreisschreiben mit Grundsätzen und Richtlinien "betreffend operative Eingriffe bei Frauen". Darin hiess es:

"Wir haben sogar feststellen müssen, dass einzelne Behörden nicht davor zurückgeschreckt sind, gegenüber den Frauenspersonen, die ganz selbstverständlich aus den verschiedensten Gründen rechtlicher, moralischer und auch operationstechnischer Art nicht ohne ihre Einwilligung operiert werden dürfen, zur Erzielung dieser Einwilligung Druckmittel anzuwenden, die vor dem Gesetz und vor dem Gewissen unzulässig sind", nämlich "Drohungen mit dem Entzug von Unterstützungen oder Versetzung in eine Arbeitsanstalt und dergleichen [...], um eine Frauensperson zur Einwilligung zur Sterilisation zu veranlassen."

Aus fiskalischen Gründen, also zum Zweck des Kostensparens bei Staatsausgaben,

"darf die Sterilisation nicht angeraten und nicht vorgenommen werden". Hingegen erlaubte das Kreisschreiben, ohne sich seinerseits um die dafür nicht bestehenden gesetzlichen Grundlagen zu kümmern, "Sterilisation" von Ehefrauen "aus Gründen eugenetischer Indikation, wenn beim einen oder beiden Eheteilen durch die Folgen unheilbarer alkoholischer Vergiftung oder anderer Infektionen oder schwerer Krankheit der körperliche oder geistige Organismus in einer Weise geschädigt ist, dass befürchtet werden muss, dass auch die eventuell noch entstehenden Kinder dieser Eheleute unter den Defekten ihrer Eltern leiden müssen."

Obwohl das Kreisschreiben eigentlich nur von Sterilisationen an Frauen ausging, schlug es doch vor, auch "die Frage zu prüfen, ob nicht an Stelle der Sterilisation der Frau diejenige des Mannes vorzunehmen sei", falls "die Gründe beim Ehemann" liegen. Bei Ledigen schien sich nicht einmal diese Frage zu stellen:

"Bei unverheirateten Frauenspersonen darf die Sterilisation nur vorgenommen werden, wenn sie deutliche Zeichen körperlicher oder geistiger Minderwertigkeit aufweisen."

Über deren Vorhandensein oder nicht "hat der Arzt zu entscheiden."

   (Endnote 253: Das Kreisschreiben ist abgedruckt in: Zurukzoglu 1938, Verhütung, S.267-270)

Der Jurist Böckli berichtete noch im Jahre 1954, im Kanton Bern würden seit 1939 durchschnittlich "im Jahr ungefähr 17 Sterilisationen auf diese Art zulässig erklärt."

   (Endnote 254: Böckli 1954, Sterilisation, S. 38)

[1936: Der Zürcher Regierungsrat will in Sachen Zwangssterilisierungen keine Nazi-Praxis gesehen haben]

In ähnlicher Weise bremsend wie legitimierend hielt der Zürcher Regierungsrat am 25. September 1936 in einem Kreisschreiben fest:

"Da nach schweizerischem und

(S.75)

zürcherischem Recht Eingriffe zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht mit Zwang und bei weitem nicht in dem Umfange wie nach deutschem Recht zulässig sind, ist die Auskunftserteilung und die Rechtshülfe in Verfahren, die in Deutschland aufgrund des Reichsgesetzes über die Verhütung erbkranken Nachwuchses durchgeführt werden, abzulehnen."

   (Endnote 255: Staatsarchiv Zürich, Bestand B XII, Bezirk Winterthur, 123.1)

Anlass zu diesem Kreisschreiben war die Anfrage der Burghölzli-Direktion gewesen, "ob sie zu solchen Auskünften trotz des ärztlichen Geheimnisses berechtigt oder gar verpflichtet sei."

   (Endnote 256: Brief des Regierungsrats von Zürich an das EJPD vom 19.6.1934. Bundesarchiv Bern, E 4260 (C) 1993/9)

(S.76)


"3,5 bis 4,5 Prozent der Bevölkerung geistig nicht vollwertig". Zählungen von Zielgruppen

[Erste Volkszählung gegen die Täufer 1634 - "Irrenzählungen" - Definition von "normal" je nach Zeitalter und "Wissenschaft"]

Um eine Menschengruppe ins Visier von geregelten Zwangsmassnahmen zu nehmen, muss sie näher bestimmt und erfasst werden. Der Zusammenhang von Zählung, Erfassung und Verfolgung reicht in Zürich bis auf die Zeit der Täuferverfolgung und die erste Zürcher Volkszählung von 1634 zurück.

"Mit der Auflistung der Seelen ab 1634 wurden zugleich die insgesamt 182 erwachsenen Täufer auf Kantonsgebiet erfasst und damit die Grundlage für die Auflösung dieser Bewegung geschaffen."

   (Endnote 257: Flüeler 1996, Geschichte, Bd. II, S. 299)

Ähnlich war es auch mit den "Abnormalen" späterer Jahrhunderte. Die Irrenzählungen erfolgten nach den jeweiligen lokalen, behördlichen und medizinischen Kriterien. Diese Kriterien veränderten sich im Lauf der Einführung von Volksschule und Milizarmee sowie mit der Verstädterung und Industrialisierung der Schweiz. Die Normen, die ein normaler Mensch zu erfüllen hatte, wurden teils komplexer, teils einheitlicher. Sie unterlagen nicht mehr nur dem familiären, dörflichen und kleinstädtischen Ermessen und Ausgrenzungsverhalten. Im Lauf der Institutionalisierung und der Psychiatrie wurden sie zusätzlich von wechselnden wissenschaftlichen Definitionen des Abnormalen überlagert.

Ein Abbild der lokalen Unterschiedlichkeit dieser Klassifikationen sind die Angaben von Erlenmeyer von 1863. Laut Erlenmeyer war im Kanton Schwyz nur eine von 850 Personen irr; im Kanton Bern galt von 218 Personen eine als irr, in Zürich schlug der Wahnsinn eine unter 228 Personen.

   (Endnote 258: Erlenmeyer 1863, Uebersicht, S. 114-126)

Diese Ziffern spiegeln jedoch nur die Intensität und den Ausbau der Anstaltsversorgung in den jeweiligen Gegenden.

In Zürich galt 1850 nach offizieller Zählung ein halbes Prozent der Bevölkerung als irr, 1888 war es ein ganzes Prozent.

   (Endnote 259: Speyer 1905, Irrenwesen, S. 687)

Inzwischen waren die Irrenanstalten Rheinau und Burghölzli gebaut worden. Die Zahlen dienten auch als Begründung für Neubau und Betrieb grösserer Irrenhäuser, was in Zürich eher spät in Angriff genommen wurde.

[Die Behauptung der "Bevölkerungsentartung" durch "Defekte" - die führende Funktion beim Rassismus gegen "Irre" des "Burghölzli" - Militarist Hans Wolfgang Maier findet das Militär "gesund" - Definition von "tauglich" und "ehetauglich" - "Ausmusterung" und "Eheverbot" - wie die Volkszählungen zum Argument für mehr Sterilisierungen herangezogen werden]

"Rassenhygieniker" interpretierten solche Zahlen als "Hinweis auf eine drohende allgemeine Bevölkerungsentartung"

   (Endnote 260: Brugger 1938, Erbgesundheitspflege, S. 33)

und somit als Bestätigung ihrer Theorie, mit

(S.76)

zunehmender Zivilisation steige der Anteil "Minderwertiger", deren Geburtenrate deshalb gezielt und möglichst auf Null zu senken sei.

So argumentierte auch Eugen Bleulers späterer Nachfolger als Burghölzli-Direktor, Hans Wolfgang Maier. Er konstatierte immer wieder den Anstieg der Zahl "Defekter", teils voller Genugtuung über das stets grössere Arbeitsfeld der Psychiatrie, teils beunruhigt über das gesteigerte Gedeihen des Wahnsinns in seiner Umgebung, und jedenfalls bestätigt in seinen Anschauungen. 1912 errechnete Maier durch Untersuchung von Stellungspflichtigen 2 Prozent Geistesschwache und Geisteskranke in der Bevölkerung, schätzte das wirkliche Ausmass des Wahnsinns aber noch höher, auf 2,25 bis 2,5 Prozent der Bevölkerung.

   (Endnote 261: Maier 1912, Häufigkeit)

1925 erachtete Maier  "etwa 3,5 bis 4,5 Prozent der Bevölkerung als geistig nicht vollwertig."

   (Endnote 262: Maier 1925, Verbreitung, S. 15)

[[Der Burghölzli-Direktor Hans Wolfgang Maier war scheinbar nicht fähig, sich selbst als "irr" zu erkennen. Der gesamte Darwinismus-Rassismus hätte ins Irrenhaus gehört, nicht die Menschen, die als von "irren" Psychiatern als "irr" definiert wurden]].

Maier stammte aus einer Familie, die aus Deutschland in die Schweiz gezogen war und den jüdischen Glauben, vermutlich unter dem Druck von Antisemitismus und Assimilationismus, durch christliches Bekenntnis ersetzt hatte. Gleich nach seiner Einbürgerung machte Maier die Rekrutenschule und wurde Offizier der Gebirgsinfanterie. Das Militär spielte in Maiers Leben eine wichtige Rolle und verkörperte für ihn, im Unterschied zum Pazifisten Forel, das "Gesunde". Die Musterung ganzer Jahrgänge unter ärztlicher Einstufung, ob "tauglich" oder nicht, floss später in die von ihm wesentlich mitgeprägten Begutachtungsstrukturen betreffend "Ehetauglichkeit" und "Schwangerschaftstauglichkeit" ein. Umgekehrt gingen, wie weiter unten gezeigt wird, Diagnosen psychiatrischer Ausmusterungen aus der Armee auf dem Weg der Amtshilfe in Eheverbotsverfahren ein.

Neben den militärischen Datenreihen

   (Endnote 263: Vgl. Lengwiler 1999, Klinik)

lieferten auch Reihenuntersuchungen an Schülern und Volkszählungen den "Eugenikern" reiches statistisches Rohmaterial.

   (Endnote264: Beispiele dazu in: Lauener 1940, Bedeutung)

[Weitere "Wissenschaftler" für die eugenische Auslese: Jenny Koller]

Maier war nicht der einzige, der in der Schweiz die Menschengruppen aus der Perspektive der "Eugenik" auszählte. Die Forel-Schülerin Jenny Koller hatte 1895 eine statistische Untersuchung im Kanton Zürich zur Frage der Erblichkeit von Geisteskranken publiziert.

   (Endnote 265: Koller 1895, Erblichkeitsstatistik)

[Otto Diem forderten Gesellschaftsveränderungen und bessere Lebensbedingungen]

An ihre Arbeit schlossen sich Otto Diems Forschungen aus den Jahren 1900 bis 1902 kritisch an. Diem war Assistenzarzt am Burghölzli, die Patientenakten dort, aber auch in anderen Kliniken standen ihm offen. Diem erkannte im Lauf seiner Berechnungen immer mehr, wie gross der wissenschaftliche Spielraum bei solchen Statistiken war. Er schrieb, dass die in anderen Statistiken genannte angebliche "stärkere hereditäre Belastung der Frauen" nichts als "ein rein statistisches Artefakt ist".

   (Endnote 266: Diem 1905, Belastung, S. 337)

Aufgrund seiner Forschungen wandte sich Diem von den Erblichkeitstheorien ab und forderte Gesellschaftsveränderungen.

"Nachdem es sich gezeigt hat, dass die 'erbliche Belastung' keine unverwüstliche, unabänderliche zerstörende Wirkung ausübt, und dass sie nur zu einem beschränkten Teil über Gesundheit und Krankheit das entscheidende Wort spricht, wird es zu den allerersten Aufgaben gehören, allen jenen äusseren Lebensbedingungen unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken, die wir längst als Grundlagen des körperlichen und

(S.77)

geistigen individuellen Wohlbefindens kennen und deren Besserung für die Gesamtheit den Kern der sozialen Kämpfe der Gegenwart bildet."

   (Endnote 267: Diem 1905, Belastung, S. 360)

Damit reagierte Diem schon früh auf die Taktik, mittels "Irrenzählungen", "Idiotenzählungen" und "Abnormalenzählungen" zusammengestellte Datenreihen dafür einzusetzen, die immensen Kosten, die da drohten, an die Wand zu malen, und "Eugenik" als billigeres Szenario zu empfehlen.

[Der "Psychiater" Josef Jörger aus Chur gegen Jenische als "Vaganten": "Die Familie Zero" - "erblich Minderwertige" - Buch: "Psychiatrische Familiengeschichten" - die Forderung der Sterilisierung]

Einer der ersten Wissenschaftler, welcher eine bestimmte Zielgruppe von "Minderwertigen" nicht nur zählte, sondern auch genealogisch bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgte, war Josef Jörger (1860-1933),

   (Endnote 268: Vgl. Mornaghini-Zweidler 1975, Jörger)

Psychiater aus Vals, Gründer und Leiter der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, Graubünden, deren Direktorium er seinem Sohn Johann Benedikt Jörger (1896-1957) vererbte - ein, wie auch im parallelen Fall von Eugen und Manfred Bleuler, keineswegs biologisch bedingter Vorgang. Forschungsobjekt von Jörgers "Psychiatrischen Familiengeschichten" waren die "Vaganten", genauer gesagt zwei Bündner Familien von Jenischen.

Auf Aufforderungen seines Doktorvaters Ludwig Wille sowie Ernst Bleulers und August Forels

   (Endnote 269: Mornaghini-Zweidler 1975, Jörger, S. 15, S. 24)

publizierte Jörger 1905 im von Alfred Ploetz herausgegebenen "Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschliesslich Rassen- und Gesellschafs-Hygiene" seine Arbeit "Die Familie Zero". Sie beginnt so:

"Vorliegende Studie über die Familie Zero wurde von mir schon im Jahre 1886 begonnen und seither con amore weitergeführt, indem ich die Lebenden verfolgte, den Toten in Urkunden und Gerichtsakten nachstöberte und so Elend über Elend auf den einen Namen häufte."

   (Endnote 270: Jörger 1905, Zero, S. 494)

Jörger steht am Anfang von psychiatrischen Theorien, die Roma, Sinti und Jenische als "erblich Minderwertige" verschiedenen Verfolgungsstrategien auslieferten: In der Schweiz der "Entvölkerung der Landstrasse" durch die "Pro Juventute",

   (Endnote 271: Vgl. den Abschnitt "Pro Juventute entvölkert die Landstrasse" in: Binder 1937, Pro Juventute, S. 99)

im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich dem Holocaust.

   (Endnote 272: Vgl. Zimmermann 1996, Rassenutopie)

Jörger ergänzte seine Arbeit über "Die Familie Zero" mit einer Fortsetzung über eine andere jenische Familie aus Graubünden, die er unter dem Codenamen "Die Familie Markus" abhandelte; sie wurde als "Festgabe an Dr. August Forel"zu dessen 70 Geburtstag gedruckt.

   (Endnote 273: Jörger 1918, Markus)

Der Berliner Springer-Verlag publizierte 1919 beide Arbeiten als Buch unter dem Titel "Psychiatrische Familiengeschichten".

   (Endnote 274: Jörger 1919, Familiengeschichten)

Rüdin lobte Jörger 1905: "Ihre Familie Zero hat in den Kreisen, die uns überhaupt ihr Urteil über die letzte Nummer abgegeben haben, stärkstes Interesse in den Gegenstand und grösste Bewunderung seiner Behandlung durch Ihre Feder hervorgerufen."

   (Endnote 275: Zitiert nach Mornaghini-Zweidler 1975, S. 24)

Jörger sieht in den von ihm bis ins 17. Jahrhundert zurückdiagnostizierten jenischen Familien "ein vom Urahn begründetes, vom Ahnen gehäuftes, unheilvolles Erbe von moralisch-ethischem Schwachsinn"

   (Endnote 276: Jörger 1919, Familiengeschichten, S. 4)

voller "Abirrungen vom gewöhnlichen Familientypus" wie "Vagabundismus, Verbrechen, Unsittlichkeit, Geistesschwäche und Geistesstörung, Pauperismus".

   (Endnote 277: Jörger 1919, Familiengeschichten, S. 1)

(S.78)

Jörgers Werk hatte Folgen. Emil Oberholzer empfahl bei den von Jörger Dargestellten die Sterilisation:

"Von grösster Bedeutung ist die Sterilisierung bei eigentlichen 'Verbrecherfamilien'. Die Literatur kennt einzelne solche Stammbäume. Vgl. Jörger, Die Familie Zero."

   (Endnote 278: Oberholzer 191, Kastration, S. 137)

Die Familienforschungen von Jörger, wie auch die von Dugdal,

   (Endnote 279: Dugdal 1877, Jukes)

Lundborg,

   (Endnote 280: Lundborg 1913, Familiengeschichten)

Goddard

   (Endnote 281: Goddard 1914, Kallikak)

sowie weitere wissenschaftliche Zerrbilder von "erblich minderwertigen Sippen" oder "asozialen Familien" dienten in den folgenden Jahrzehnten immer wieder als angebliches Beweismaterial für die Erblichkeit unerwünschter sozialer Verhaltensweisen und zur Propagierung "eugenischer" Eingriffe.

   (Endnote 282: Vgl. Bock 1986, Zwangssterilisation, S. 329. Vgl. auch Mayer 1927, Unfruchtbarmachung, S. 44; Kankeleit 1929, Unfruchtbarmachung, S. 31; Dirksen 1926, Asoziale; Knorr 1939, Grossfamilien)

[Der deutsche "Psychiater" Robert Ritter agiert in der Schweiz gegen Zigeuner und Landfahrer - die Kollaboration der Polizeibehörden - der Wettbewerb unter den Rassisten-Psychiatern]

Robert Ritter, Zentralfigur der Verfolgung von "Zigeunern" und "Landfahrern" im Nazireich, kannte Jörgers Arbeiten und gedachte sie "in Bezug auf ihre Reichweite und Einzelerfassung weit überholen" zu können,

   (Endnote 283: Ritter 1935, Untersuchungen, S. 713)

was ihm auch gelang. Ritter begann mit Familienforschung an Jenischen und selektionierte schliesslich Zehntausende von Sinti, Roma und Fahrenden zu Zwangssterilisation, Arbeitslager oder Vernichtungslager.

   (Endnote 284: Zu Ritter vgl. Müller-Hill 1984, Hohmann 1991, Zimmermann 1996)

Nicht nur die Bezugnahme Ritters auf Jörgers "Psychiatrische Familiengeschichten" verband Ritter mit der Schweiz. Ritter bedankte sich im Vorwort zu seiner Habilitation "Ein Menschenschlag" bei "Polizeibehörden vor allem in der Schweiz, Oesterreich, Polen, Ungarn und Rumänien" für ihre Auskünfte.

   (Endnote 285: Ritter 1937, Menschenschlag, S.9)

Ritter hatte einen Teil seiner Ausbildung als Volontärarzt in Zürich am Burghölzli absolviert. Mit Frau Hildegard und Kind kam Ritter am 21. April 1931 in Zürich an. Seine Frau arbeitete als pädagogische Volontärin an der kinderpsychiatrischen Beobachtungsstation "Stephansburg", Ritter selbst bis im Frühjahr 1932 auf der Erwachsenenabteilung des Burghölzli.

[Der Burghölzli-Rassismus regiert noch 1961 ungebremst]

In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass der Burghölzli-Kinderpsychiater Jakob Lutz noch 1961 nicht nur Rüdin unkritisch und zustimmend zitierte,

   (Endnote 286: Lutz 1961, Kinderpsychiatrie, S. 165)

sondern auch Friedrich Stumpfl, einen anderen führenden Theoretiker der "Rassenhygiene" unter Hitler, der speziell auch die "Nichtsesshaften" im Visier hatte,

   (Endnote 287: Vgl. Stumpfl 1935, Erbanlage; Stumpfl 1939, Störungen)

als Mitautor seines umfangreichen Buchs über Kinderpsychiatrie beizog.

   (Endnote 288: Lutz 1961, Kinderpsychiatrie)


Weshalb war Ritter 1931 nach Zürich gekommen? Dazu heisst es in Ritters Lebenslauf vom 1. März 1944:

"Vom April 1931 bis April 1932 war ich Assistent der Psychiatrischen Klinik in Zürich, an der ich ihrer sozial-psychiatrischen und eugenischen Grundeinstellung wegen damals Weiterbildung suchte."

   (Endnote 289: Bundesarchiv Berlin, Bestand Parteikorrespondenz)

[Alfred Siegfried sucht Vagantenkinder für die "Umerziehung" durch die "Fürsorge" - Kindswegnahme als "Gebot der Menschenpflicht" und "Sozialpolitik"]

Eine Fortsetzung der von Jörger begründeten Erforschung von "Vagantengeschlechtern" betrieb nicht nur Robert Ritter in Deutschland, sondern auch Alfred Siegfried, der Gründer des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse", in der Schweiz. Siegfried eruierte die Zahl der Kinder von "Vaganten", die er mittels Zwangsmassnahmen zur Sesshaftigkeit umerziehen wollte, durch Umfragen bei Behörden:

(S.79)

"Im Dezember 1928 wurden an 35 schweizerischen Gemeinden Fragebogen über die dort heimatberechtigten Personen, die zu den Fahrenden gerechnet werden müssen, versandt. Es liefen 30 Antworten ein. Zu ihnen werden verschiedene Geschlechter aufgeführt mit insgesamt 1470 Personen, wovon ca. 540 unter 15 Jahren. [...] Nach unserer Schätzung haben wir mit unserer Enquête [[Untersuchung]] etwa 80% der Gesamtzahl erfasst; diese darf somit auf rund 1800 Personen angesetzt werden, davon 675 Kinder unter 15 Jahren, die allein für unsere Fürsorgemassnahmen in Betracht kommen.

Nach unseren bisherigen Beobachtungen müssen wir damit rechnen, dass beinahe die Hälfte dieser Kinder, auf keinen Fall weniger als 300, in derart ungeordneten Verhältnissen leben, dass ihre Entfernung aus dem derzeitigen Milieu nicht nur ein Gebot der Menschenpflicht, sondern auch der Sozialpolitik ist. Bei der überall zu beobachtenden, geradezu beunruhigenden Vermehrung der Fahrenden ist [...] in den kommenden 10 Jahren mit einem Zuwachs von mindestens 70 zu rechnen. Die Gesamtzahl der während dieser Zeit zu versorgenden Kinder dürfte demnach mit 370 eher zu tief eingeschätzt sein."

   (Endnote 290: Subventionsgesuch des Pro-Juventute-Stiftungskommissionpräsidenten Ulrich Wille an den Bundesrat vom 25.2.1929, Beilage "Umfang der Vagantität und Aufgaben der nächsten Jahre". Bundesarchiv Bern, E 3001 (A) 1, 11/22)

[Blinde und Gehörlose sollen erblich Kranke sein, die man sterilisieren müsse - Volkszählungen und "wissenschaftliche" Arbeiten - Karl Rehsteiner, Ernst Hanhart ortet "Entartungszeichen" - Mitarbeit im Nazitum]

Die blinden Schweizer waren ebenfalls Gegenstand von Zählungen und von "eugenischen" Überlegungen.

Die Zahl "der uns irgendwie in eugenischer Hinsicht interessierenden Blinden" schätzte Karl Rehsteiner [[Rechsteiner?]] auf 50 Prozent der Blinden und somit auf 0,3 Promille der schweizer Bevölkerung. Er empfahl "Eheberatung" und "freiwillige Sterilisation".

   (Endnote 291: Rehsteiner 1938, Augenkrankheiten, S. 202-203)

Die "Taubstummen" im Kanton Zürich wurden im Jahr 1926 gezählt, landesweit 1930;

"Die Volkszählung 1930 versuchte durch eine besondere Frage zugleich eine Zählung der Taubstummen in der Schweiz. Man erfuhr dadurch einmal die Adressen der Haushaltungen, in denen Taubstumme leben, und zweitens die Zahl der Taubstummen."

   (Endnote 292: Lauener 1935, Taubstummheit, S. 85)

Sie belief sich auf 7268.

Ernst Hanhart verwendete Jahrzehnte seines Forscherlebens - neben seiner Befassung mit ähnlichen Themen wie etwa der "erbbiologischen" Erfassung Kleinwüchsiger

   (Endnote 293: Hanhart 1925, Inzuchtsgebiete;Hanhart 1926, Zwergwuchs)

- auf  das Ausfindigmachen von "Idiovarianten", "Isolaten" und "Entartungsherden" Hörbehinderter in der ganzen Schweiz.

Seine Genealogie der "Taubstummen" eines Walliser Dorfes, die er bis 1965 weiterführte, hatte Hanhart schon an der zwölften Versammlung der "Internationalen Föderation eugenischer Organisationen" 1935 in Scheveningen stolz als "in Breite und Tiefe grösster sich auf ein einfach-rezessives Erbmal beziehender Stammbaum der Weltliteratur" präsentiert.

   (Endnote 294: Vgl. Hanhart 1935, Mutationen. Hanharts "Genealogische Kartothek der Gemeinde Ayent (VS): Erbtaubstumme und Schwerhörige 1965"; lagert in der schweizerischen Landesbibliothek Bern)

1935 war Hanhart noch gegen die in Deutschland praktizierte generelle Sterilisation "sämtlicher manifest behafteter" Hörberhinderter.

   (Endnote 295: Hanhart 1935, Mutationen, S. 79

Als Ko-Autor des Berliner Rassenforschers Günther Just half er aber bald darauf, die nazistische "Rassenhygiene" wissenschaftlich abzusegnen.

   (Endnote 296: Hanhart 1940, Erbpathologie; Hanhart 1940, Erbbiologie)

In seinem Beitrag erforschte Hanhart "Entartungszeichen". Das von Hanhart als Mitherausgeber von Günther Just betreute mehrbändige "Handbuch der Erbbiologie des Menschen" erschien in mehreren Bänden ab 1939in Berlin. Der zweite Teil des fünften Bandes dieses Werks über "Erbbiologie und Erbpathologie nervöser und psychischer Zustände und Funktionen"

(S.80)

versammelte als Autoren neben den Mitarbeitern an der 6. und 7. Auflage von Bleulers "Lehrbuch der Psychiatrie" Hans Luxenburger und F. Meggendorfer sowie dem Spezialisten für Vererbungsforschung an "Nichtsesshaften" in Österreich, Friedrich Stumpfl, auch den eifrigen Basler "Eugeniker" und Schularzt Carl Brugger.

   (Endnote  297: Luxenburger 1939, Schizophrenie; Meggendorfer 1939, Erbpathologie; Stumpfl 1939, Kriminalität; Brugger 1939, Schwachsinn)

Praxisnahe Vorschläge zu einer gruppenspezifisch aufgegliederten gesamtschweizerischen "Abnormenzählung" nach deutschem Muster, bis hin zur Frage, wie die "Zählkarte" zu gestalten sei und wer die Zähler sein sollten, machte 1942 Othmar Englert in einem Buch, das im Verlag des Instituts für Heilpädagogik Luzern erschien

   (Endnote 298: Englert 1942, Abnormenzählungen)

- zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland die Gezählten bereits vergast wurden. Englert gibt einen Überblick über 66 seit 1811 durchgeführte "Abnormenzählungen" verschiedener Zielgruppen in der Schweiz.

(S.81)


"Nachgehende Fürsorge". Eheberatung und Sterilisation von Jenischen, Gehörlosen und Epileptischen

[Die Vererbungslehre wird in den Bürgerkreisen beliebt, weil alle nicht-bürgerlichen Menschen als krank definiert, isoliert und vernichtet werden können - Pro-Juventute-Zentralsekretär Hanselmann will Fürsorge und gesetzliche Grundlagen für die Sterilisationen]

Fand die Theorie prophylaktisch-"eugenischer" Bekämpfung zukünftiger schwieriger Fälle gerade im Sozial-, Psychiatrie- und Sonderpädagogikbereich so viel Anklang, weil es für etliche der in diesen Bereichen Beschäftigten doch überwiegend ärgerlich, unspriesslich und wenig Prestige versprechend war, sich mit ausgegrenzten Behinderten, Sonderlingen, Schulschwachen, Gestörten, von der bürgerlich geprägten Norm abweichenden, nach Armut, Elend, Schweiss und Alkohol riechenden und überdies manchmal ganz erstaunlich widerspenstigen, frechen, schlagfertigen und gewitzten "Elementen" abzugeben?

Zwar untergrub der Gedanke, es gäbe solche Leute besser gar nicht, die eigene Existenz als deren Verwalter, erwies sich jedoch für viele als verführerisch. Denn er war kombiniert mit der Einschätzung, man sei eigentlich zu Höherem berufen, als sich mit "Inferioren" zu beschäftigen. Zwar argumentierten ausgesprochene Helfertypen, denen der Umgang mit Hilfsbedürftigen ein Bedürfnis war, wie der ehemalige Zentralsekretär der "Pro Juventute" und Gründer des Heilpädagogischen Seminars Heinrich Hanselmann, im "eugenischen" Umfeld gegen "Euthanasie" und Zwangssterilisation. Hanselmann tat dies mit der legalistischen Begründung, der "einfachste Weg" der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" sei "ohne eine gesetzliche Regelung [...] nicht denkbar". Auch die Sterilisation als operativer "Eingriff in einen Kernpunkt der persönlichen Freiheit des Menschen" sei "im grossen Stil nicht ohne gesetzliche Regelung durchführbar". Doch Hanselmann propagierte den "dritten Weg" einer "planmässigen nachgehenden Fürsorge für dauernd körperlich-geistig-seelische Hilfsbedürftige" ebenfalls aus der Überzeugung heraus, es sei "selbstverständlich, dass 'lebensunwerte', auf der Basis vererbter oder vererbbarer Anlagemängel arbeits- und gesellschaftsuntüchtig gewordenen Menschen bestmöglich an ihrer Fortpflanzung verhindert werden müssen."

   (Endnote 299: Hanselmann 1938, Verhütung, S. 90-91)

(S.81)

[CH-Rassismus ab 1947: die Vermehrung von Vaganten unterbinden]

Die Zählungen der Zielgruppen dienten als Datenquellen zur "nachgehenden Fürsorge" an den Erfassten. "Nachgehende Fürsorge" schloss regelmässige Überwachung und Besuche in den Wohnstätten und Heimen ein. Sie wurde auch vom "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" und von Behörden gemäss den Empfehlungen Jörgers gegenüber den "Vaganten" betrieben.

   (Endnote 300: Vgl. Jörger 1925, Vagantenfrage)

Das Vorgehen zielte auch auf Sterilisationen:

"In den 'Richtlinien für die Vagantenfürsorge in Graubünden', die aufgrund von Diskussionsergebnissen der kantonalen Fürsorgerinnen 1947 erstellt wurden, steht: 'Die starke Vermehrung der Vaganten ist sicher unerwünscht. In manchen Fällen scheint die Sterilisation das schnellste, einfachste und sicherste Mittel zur Geburtenverhinderung zu sein. Allerdings wehrt sich der Vagant in der Regel energisch gegen diese Massnahme und verweigert sein Einverständnis.' "

   (Endnote 301: Stirnimann 1979, Jenische, S. 165)

Auch Gutachten des Burghölzli empfahlen Sterilisation von Jenischen. Der Gutachter Dr. Hans Wehrle lehnte bei einem jenischen Mündel, dessen Vormundschaft von Siegfried auf die Zürcher Amtsvormundschaft übergegangen war, den Schwangerschaftsabbruch ab. Hingegen empfahl er "die Sterilisation der Pat. im Anschluss an die Geburt". Denn sie sei "ein debiles, moralisch schwachsinniges, haltloses und schwer triebhaftes Mädchen."

   (Endnote 302: Wehrle an Amtsvormundschaft, Kopie an Siegfried, 19.8.1944. Das Dokument war ein Exponat der Ausstellung "Die Erfindung der Schweiz 1848-1898 / Bildentwürfe einer Nation" im Landesmuseum von 26.6.bis 4.10.1998)

(S.82)


Sterilisation von Gehörlosen

[Schwangerschaftsabbruch durch Röntgenbestrahlung - Tod der Schwangeren]

"Nachgehende Fürsorge", die auch "Eheberatung" und das Zureden zu "freiwilliger" Sterilisation umfasste, wurde auch gegenüber Gehörlosen praktiziert. Sie lebten ebenfalls im Zielbereich der "Eugenik". Gemäss dem deutschen "Erbkranken"-Gesetz waren Gehörlose generell, ferner auch viele Schwerhörige der Zwangssterilisation unterworfen.

   (Endnote 303: Vgl. Biesold 1988, Hände)

Der Gehörlosenzähler und Zürcher Universitätsprofessor Felix Robert Nager (1877-1959) argumentierte gegen eine generelle Verhinderung von Kindern Gehörloser durch Vorschriften und Richtlinien . Er warnte vor den Risiken ungenauer Abklärungen und erwähnte den Schwangerschaftsabbruch bei einer Schwerhörigen wegen der medizinischen Indikation "Otosklerose". Der Eingriff wurde durch "die damals empfohlene Methode der Röntgenbestrahlung des graviden Uterus" vorgenommen. Da diese Methode nicht zur beabsichtigten Totgeburt führte, "wurde die Gravidität [[Schwangerschaft]] in gewöhnlicher Weise unterbrochen. Es stellte sich dann Sepsis ein, und die Patientin verstarb."

Die Sektion der Leiche ergab jedoch, dass sich "nicht die geringsten Zeichen einer otosklerotischen Erkrankung nachweisen" liessen.

   (Endnote 304: Nager 1938, Ohrerkrankungen, S. 184-185)

[Felix Robert Nager empfiehlt die "ärztliche Beratung" bei "erbkranken Eheanwärtern" - das Argument der "taubstummen Menschenart"]

Anstelle schematischer Verfahren propagierte Nager ärztliche Beratung und Massnahmen auf individueller Vertrauensbasis. Denn ein gesetzlicher Sterilisationszwang würde die "mildere Prophylaxe" gefährden, nämlich die Erarbeitung der "Familienanamnese", respektive Stammbäume und Genealogien im Stil Hanharts, und die "ärztliche Beratung und Betreuung" der Hörbehinderten würde darunter leiden.

   (Endnote 305: Nager 1938, Ohrerkrankungen, S. 187)

Nager strebte eine ungeregelte, aber möglichst lückenlose ärztliche Eheberatung der "erbkranken" Gehörlosen an:

"Unter allen Umständen sollten erbkranke Eheanwärter erfahrene Fachärzte zu Rate ziehen."

Diese sollten dann im Fall sonstiger "psychischer (S.82)

Anomalien" oder bei drohender "Inzucht" beratend intervenieren. Denn es sei zwar

"sehr begreiflich, wenn solche Leidensgenossen nicht selten untereinander heiraten, verstehen sie sich doch gegenseitig am besten", nämlich mit Hilfe der Gebärdensprache.

Nager übernahm gegen Heirat und Nachwuchs von Gehörlosen ein Argument von Alexander Graham Bell, dem Erfinder des Telefons:

"Schon vor über 40 Jahren hat A.G. Bell auf die Gefahren der Ehe unter Taubstummen hingewiesen und die Möglichkeit der Reinzüchtung einer taubstummen Menschenart befürchtet."

   (Endnote 306: Nager 1938, Ohrerkrankungen, S. 186. Vgl. Bell 1883, Memoir; Bell 1917, Marriage)

[1935: Lauener will auch Schwerhörige sterilisieren]

1935 hatte A. Lauener die deutsche Gesetzgebung zur Zwangssterilisation "Taubstummer" so kommentiert:

"Das deutsche Sterilisationsgesetz ist für unsere Verhältnisse kaum passend und durchführbar. Der Grundgedanke ist aber gar nicht so abwegig."

Unter den "Grundgedanken", es gelte den "Erbstrom pathologischer Belastung" einzudämmen, subsummierte er gleich auch noch die 40.000 schweizer Schwerhörigen.

   (Endnote 307: Lauener 1935, Taubstummheit, S. 91)

[Studie über Taubstummenehen von Marianne Ulrich von 1943 - die Kinder von Gehörlosen haben fast alle ein gutes Gehör - nur Finnland verbietet die Ehe von Gehörlosen untereinander - trotz der Befunde empfiehlt Marianne Ulrich die Sterilisation von Gehörlosen zur "Nachwuchsverhinderung"]

Marianne Ulrich machte in ihrer Diplomarbeit an der sozialen Frauenschule Zürich von 1943 unter dem Titel "Die Taubstummenehe und ihre praktische Auswirkung" eine "Erhebung bei 50 taubstummen Ehepaaren im Kanton Zürich", und zwar "aufgrund der Kartothek des Taubstummenpfarramts".

   (Endnote 308: Ulrich 1943, Taubstummenehe, Vorwort

24 dieser Ehen waren kinderlos, davon "in 4 Fällen Sterilisation",

   (Endnote 309: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S.47

wobei eine solche Statistik einmal mehr eine beträchtliche Dunkelziffer undeklarierter Sterilisationen wahrscheinlich macht. In ihrer Darlegung der durchaus umstrittenen Erblichkeit der verschiedenen Formen von angeborenen Gehörschädigungen stützte sich Ulrich auf den Referenzautor der deutschen Regelung einer generellen Zwangssterilisation "Taubstummer" und auf eine deutsche Dissertation aus dem Jahre 1939.

   (Endnote 310: Schwarz 1935, Taubheit; Scharp 1939, Sterilisation)

Angaben, die nicht ins erbbiologische Denkschema Ulrichs passen, etwa die Auskunft von 35 der untersuchten Männer, sie seien nicht "erbtaub", sondern hätten als Kleinkinder das Gehör verloren, beispielsweise durch eine Mittelohrentzündung, relativiert sie:

"Die Zahlen sind relativ zu werden, da sie allein auf Aussagen der Gehörlosen fussen."

   (Endnote 311: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S. 47)

Anderes konstatiert sie, ohne ihren eigenen Diskurs deswegen in Frage zu stellen:

"Die Kinder taubstummer Eltern sind nur in verschwindend wenigen Fällen wieder gehörlos."

   (Endnote 312: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S. 25)

Oder: Angeborene Gehörlosigkeit "kann plötzlich auftauchen in einer sonst absolut gesund scheinenden Familie."

   (Endnote 313: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S. 3)

[[Marianne]] Ulrich stellte bedauernd fest, dass einzig die Gesetze Finnlands und Deutschlands die Gehörlosen mitberücksichtigten - Finnland stellte sie unter Eheverbot - und dass weder der schweizerische Eheverbotsartikel 97 ZGB noch Artikel 99 über Ehenichtigkeit "Taubstumme" miteinschloss:

"Es können weder Art. 97 noch Art. 99 ZGB zur Verhinderung der Taubstummenehe aus rassenhygienischen Gründen angewendet werden."

   (Endnote 314: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S. 12)

Dennoch schilderte und empfahl sie das Wirken "nachgehender Fürsorge"" und "Eheberatung" zwecks Hinwirkung auf Verhinderung und Unfruchtbarmachung von "Taubstummenehen".

[[Marianne]] Ulrich empfahl zur Förderung der "freiwilligen" Sterilisation "Taubstummer" den Erlass der Operationskosten. Darüberhinaus solle "zur Ermunterung nach Vollziehung des Eingriffs ein kleiner Zuschuss abgegeben werden".

   (Endnote 315: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S. 6)

(S.83)

In der Zusammenfassung ihrer Arbeit umschrieb [[Marianne]] Ulrich, wie sehr die Ehe- und Nachwuchsverhinderung von Gehörlosen im Zentrum der "nachgehenden Taubstummenfürsorge"stand:

"Die Taubstummenehe stellt der Fürsorge folgende Aufgaben:
1. Eheverhütung auf dem Wege der Einsicht
2. Eheberatung:

Allgemeine Aufklärung
Spezielle Aufklärung über die Vererbung
Abklärung der Sterilisationsfrage (Wo kann sie empfohlen werden - Förderung der Zusammenarbeit von Arzt und Fürsorger - Betreuung während des Spitalaufenthalts - Erschliessung von Geldquellen zur Kostendeckung - ev. Abgabe von 'Anerkennungsprämien')
Ausnahmsweise Eheanbahnung in Spezialfällen
Vorbereitung des Mädchens zur Hausfrau
Vorbereitung der Brautleute auf den Umgang mit Umwelt und Behörden, also zur Vertretung der Gemeinschaft nach aussen."


   (Endnote 316: Ulrich 1943, Taubstummenehe, S. 41)

Erst unter Punkt drei folgten dann in dieser Aufzählung Integration, Vermitteln von Arbeitsstellen und Altersfürsorge.

(S.84)


Eugenik und Eheberatung

[Die "wissenschaftliche" Eheberatung appelliert gegen Ehen aus rassistischen Gründen - Vorträge über "Erbverantwortung" und "Sterilisation" - Vortrag von Erwin Frey zur Verhinderung von "erbminderwertigen Nachkommen" - Publikationen im Selbstverlag der Eheberatungsstelle - Gratis-Sterilisationen]

Bei der Praktizierung von "Eugenik" durch Aufklärung und Beratung spielte nicht nur die klientelspezifische "nachgehende Fürsorge" eine zentrale Rolle. Wichtig waren auch die in grösseren Zentren, so auch in Zürich, die zu diesem Zweck gegründeten "Eheberatungsstellen".

Die "Zentralstelle für Ehe und Sexualberatung Zürich" wurde beispielsweise im Jahr 1938 von der Stadt Zürich mit einem Jahresbeitrag von 7000 Franken unterstützt.

   (Endnote 317: Vgl. Protokoll des Vorstands des Wohlfahrtsamts vom 16. März 1938, Stadtarchiv, Bestand V.J.a.61)

Sie sah einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Aufgaben in Empfehlung, Vermittlung und Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Sterilisationen und Ehetauglichkeitsabklärungen.

Darauf verweisen öffentliche Vorträge zu Themen wie "Erbverantwortung" und "Sterilisation", welche die Zentralstelle seit ihrer Gründung 1932 organisierte.

   (Endnote 318: Erster Jahresbericht 1932/33, S. 169-170)

Referenten waren viele führende "Eugeniker" der Schweiz, so auch der damalige Basler Jugendstaatsanwalt und später Zürcher Universitätsprofessor Erwin Frey. Frey behandelte in seinem Vortrag zu "Aufgaben der Erbvorsorge in der Verbrechensbekämpfung"

   (Endnote 319: Frey 1943, Grenzen)

wie auch in seinen sonstigen Werken in erster Linie die ledigen und minderjährigen Fürsorgezöglinge:

"Wenn diejenigen Stellen, die beruflich dauernd mit hochgradig gefährdeten Erbkranken zu tun haben, vor allem also Jugendstrafbehörden und Jugendfürsorgebehörden, in allen in Frage kommenden Fällen den Sterilisierungsantrag bei der zuständigen psychiatrischen Klinik stellen würden, dann könnte schon heute die Fortpflanzung von erbminderwertigen Nachkommen in einer grossen Zahl von Fällen verhindert und damit ein erheblicher kriminalpolitischer Fortschritt in der Bekämpfung des Berufsverbrechertums erreicht werden."

   (Endnote 320: Frey 1943, Jugendstrafrechtspflege, S. 315)

Einige dieser Vorträge publizierte die Zentralstelle für Eheberatung im Selbstverlag, so den von Adolf Zolliker, Oberarzt an der Anstalt für Epileptische, über Ehefähigkeit und

(S.84)

Eheberatung. Zolliker schreibt darin:

"Ist ein Ehepartner geisteskrank (z.B. schizophren), so muss die Tragweite einer solchen Ehe dem gesunden Partner klar dargelegt werden. Will er das Risiko doch auf sich nehmen, so ist dringend die Sterilisation des kranken Eheteils anzuraten."

   (Endnote 321: Zolliker ohne Jahr, Ehefähigkeit, S. 20)

[[Die Definition "schizophren" wurde im Zuge der "Wissenschaft" innerhalb der denaturierten, degenerierten Industrialisierung erst im 19. Jh. erfunden]].

Die Eheberatung traf "Anordnungen". Diese bestanden in "Überweisung an den Arzt, Psychiater, Neurologen, Gynäkologen, Dermatologen oder die entsprechende Poliklinik, Überweisung an Fürsorgestellen, Vormundschaftsbehörden, Eheschutzrichter."

   (Endnote 322: Erster Jahresbericht 1932/33, S. 174)

Dass die Beratenen "sich in der Folge gerne und freudig den Anordnungen unterziehen, die die Beraterin für zweckdienlich hält", weil "die natürliche Auswirkung" der durch die Beratung erzielten "Ruhe und Klarheit".

   (Endnote 323: Erster Jahresbericht 1932/33, S. 174)

Die Zürcher Zentralstelle für Eheberatung verwendete beträchtliche Mittel für die direkte Übernahme von medizinischen Behandlungskosten. Sie war vermutlich eine der "Geldquellen" zur Kostendeckung von Sterilisationen, die [[Marianne]] Ulrich erwähnte.

Es heisst im ersten Jahresbericht:

"Eine ausserordentliche Erleichterung bedeutet es, insbesondere heute, in dieser Zeit grosser Not, dass die 'Zentralstelle' in der Lage ist, aus ihren Mitteln die Kosten einer ärztlichen Behandlung zu bestreiten, dann, wenn weder der Ratsuchende selbst, noch eine Krankenkasse dafür beansprucht werden kann, noch eine polikilinische Überweisung möglich ist. Die unter dem Titel Artzhonorare verausgabten Beträge waren im ersten Tätigkeitsjahr wohl noch recht bescheiden, wir sehen aber heute schon voraus, dass dieser Ausgabenposten jährlich auf mehrere tausend Franken zu veranschlagen ist."

   (Endnote 324: Erster Jahresbericht 1932/33, S. 174)

(S.85)

Sterilisation von Epileptischen

[Angaben von Epilepsie-Direktor Braun: Zunehmende Zahl von epileptischen Anfällen bei fünf epileptischen Schwangeren - kaum Vertrauen in den Arzt - die Forschung plädiert z.T. auf Hirnverletzung statt Erblichkeit bei Epilepsie - die Kinder der Epileptischen haben keine Epilepsie, sollen aber zu 20% geistig minderwertig sein - Epileptische sollen ein "ungünstiges Erbgut" haben - eugenische Epilepsieklinik Zürich bis in die 1960-er Jahre]

Auch die an Epilepsie Leidenden lebten im Zielraum der "Eugeniker".

Der ärztliche Direktor der Schweizerischen Anstalt für Epileptische, Friedrich Braun, fasste im Jahresbericht 1943 eine kurz zuvor erstellte Diplomarbeit der Absolventin Pfeifer an der sozialen Frauenschule Zürich zusammen, die sich mit "Epileptiker-Ehen" befasste. Braun schrieb:

"Gelegentlich lassen sich Patienten vor der Ehe sterilisieren. Diesem Eingriff unterzogen sich 5 der 50 Patienten vor der Verheiratung, 2 auf Drängen der Heimatgemeinde, 3 auf eigenes Begehren",

   (Endnote 325: Braun 1944, Bericht, S. 26)

was ein weiteres Schlaglicht auf die "Freiwilligkeit" solcher Eingriffe wirft. Braun schrieb weiter:

"7 Patienten liessen sich während der Ehe sterilisieren, bei 5 Patientinnen musste wegen starker Zunahme der Anfälle in der Schwangerschaft eine Unterbrechung der Schwangerschaft mit nachfolgender Sterilisation durchgeführt werden." "In zwei Fällen waren die anfallsfreien Ehepartner zeugungsunfähig."

   (Endnote 326: Braun 1944, Bericht, S. 26-27)

Nachwuchs von Epileptischen wurde also in 17 von 50 Fällen verhindert.

Die "eugenische Beratung" stiess auch bei diesen Betroffenen auf Widerstand:

"An diese Aufklärungen glauben die wenigsten Kranken; das Misstrauen, dass der Arzt nur eigenes und staatliches, aber nicht das persönliche Wohl der Kranken in erster Linie

(S.85)

berücksichtigt, ist so tief eingewurzelt, dass wir ihm auch bei dieser Aufgabe nur schwer begegnen können."

   (Endnote 327: Braun 1944, Bericht, S. 24)

Das ist weiter nicht erstaunlich, schrieb doch Braun,

"die Aufgabe der Fürsorge besteht darin, den Kranken zum selbstgewollten Verzicht zu bringen, eine Ehe einzugehen. Aber es ist uns wohl bewusst, dass der Erfolg der Beratungen stets ein fragwürdiger sein wird."

   (Endnote 328: Braun 1944, Bericht, S. 28)

Neben dem Druck Richtung "selbstgewollten Verzicht" war das grosse Glaubwürdigkeitsproblem derjenigen, die Epileptiker als Erbkranke auffassten, dass schon damals sich die Stimmen mehrten, die Epilepsie sei eine Folge von Hirnverletzungen.

Die entgegen "eugenischer" Beratung entstandenen Kinder waren nicht epileptisch: "Keines der 55 Kinder leidet bis heute an epileptischen Anfällen."

Um "eugenische" Geburtenverhinderung gegenüber seinen Patienten dennoch zu rechtfertigen, fügte Braun an, von diesen Kindern "müssen etwa 20 Prozent als geistig minderwertig bezeichnet werden."

   (Endnote 329: Braun 1944, Bericht, S. 27)

So blieb Braun bei seiner Haltung:

"Der Epileptiker ist nicht wie der Geisteskranke von vornherein eheunfähig; werden wir aber vor die Entscheidung gestellt, ob zur Ehe zu raten sei oder nicht, müssen wir diese Frage meist in negativem Sinn beantworten. Wir gehen von der Erfahrung aus, dass Ehen von Gesunden mit unsern Kranken sehr oft unglücklich werden und für die Nachkommenschaft, ganz abgesehen von dem ungünstigen Erbgut, das die Kinder mitbekommen, eine ungünstige Umwelt schaffen."

   (Endnote 330: Braun 1944, Bericht, S. 18)

Friedrich Braun, sein Vorgänger Alfred Ulrich wie auch andere "erbpflegerisch" gesinnte Ärzte der Zürcher Epilepsie-Klinik, etwas Adolf Zolliker, der spätere Direktor der psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Thurgau, wurden auch von der Stadt Zürich häufig als Begutachter von "Ehe- oder Schwangerschaftstauglichkeit" beigezogen, nicht nur in Fällen von Epilepsie. Da die Zürcher Epilepsie-Klinik gesamtschweizerische und europäische Ausstrahlung hatte, war ihre "eugenische" Grundorientierung, die schon Brauns Vorgänger Ulrich teilte und die bis in die 60er-Jahre wirksam blieb, weit über Zürich hinaus von ähnlich grosser Bedeutung wie die des benachbarten Burghölzli.

(S.86)


Stiftungen, Föderationen, Kommissionen. Gruppierungen der "Rassenhygieniker" in der Schweiz

["Wissenschaftliche" Eugeniker fordern nationale "erbbiologische" Programme für die Schweiz - Stavros Zurukzoglu, Carl Brugger]

Viele "Eugeniker" hatten Posten inne, die ihnen möglich machten, Schreibarbeiten für ihre Blätter, Vereinskorrespondenz für ihre Gruppierungen und auch ihre wissenschaftlichen Publikationen zu verfassen. Aber diese Arbeitsstätten genügten den "eugenischen" Exponenten, die meist ehrgeizig und sehr fleissig waren, oftmals nicht ganz. Etliche von ihnen, insbesondere die beiden "eugenischen" Hauptexponenten

Stavros Zurukzoglu, Privatdozent und seit 1956 Honorarprofessor für "Sozialhygiene und Eugenik" an der Universität Bern,

   (Endnote 331: Vgl. Zurukzoglu 1925, Rassenhygiene; Zurukzoglu 1936, Geisteskrankheit; Zurukzoglu 1938, Verhütung; derselbe 1944, Wesen)

sowie

Carl Brugger, Schularzt und Universitätsdozent in Basel,

hätten gerne auch in der Schweiz nationale "erbbiologische" Programme mit Hilfe grosszügig ausgestatteter neuer Institutionen konsequent durchgezogen.

(S.86)

So forderte Brugger, dessen früher Tod 1944 aber solche Pläne verhinderte, für die Schweiz "ein zentrales Institut für medizinische Vererbungsforschung". Er stellte sich vor, dass dieses ihm vorschwebende Zentralinstitut aus der nach einschlägigen Vorarbeiten durch Rüdin und Luxenburger 1937 "mit besonderer staatlicher Unterstützung" wiedereröffneten "Abteilung für Erblichkeitsforschung" an der Basler psychiatrischen Klinik Friedmatt herauswachsen würde und schliesslich die "erbbiologische Registrierung der Gesamtbevölkerung" besorgen solle."

   (Endnote 332: Brugger 1938, Erbgesundheitspflege, S. 37-38)

[Spenden für die "Bewegung" der "Rassenhygieniker" in der Schweiz - Cadonau-Fond für "Pro Juventute" und "Kinder der Landstrasse" - Spende von Julius Klaus für Schweizer "Rassenhygieniker" - Nietzsche will das "Aussterben vieler Arten von Menschen" - die Klaus-Spende für die "Rassenverbesserung der Menschheit"]

Weil die "Eugenik" eine Bewegung von oben gegen unten war, konnte sie auf Legate und Erbschaften reicher Einzelpersonen zählen. Ähnlich wie die "Pro Juventute" und das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" vom Cadonau-Fonds profitierten,

   (Endnote 333: Vgl. Huonker 1987, Volk, S. 82)

empfingen die Schweizer "Rassenhygieniker" eine reiche Spende von Julius Klaus (1849-1920), der wie Cadonau sein Vermögen im Handel mit Kolonialprodukten angehäuft hatte.

Julius Klaus war von Friedrich Nietzsche beeinflusst, einem anderen Vordenker der "Rassenhygiene". Nietzsches Wunsch nach dem "Aussterben vieler Arten von Menschen" ist, biografisch stimmig, nicht mit dem Lob der Ehe und der Verdammung der Prostitution verknüpft wie bei Forel, sondern mit einem Bannspruch gegen die Ehe und dem Lob kinderloser käuflicher Liebe:

"Man soll die Befriedigung des Triebs nicht zu einer Praxis machen, bei der die Rasse leidet, d.h. gar keine Auswahl mehr stattfindet, sondern alles sich paart und Kinder zeugt. Das Aussterben vieler Arten von Menschen ist ebenso wünschenswert als irgend eine Fortpflanzung. Und man sollte sich durch diese enge Verbindung mit einer Frau seine ganze Entwicklung durchkreuzen und stören lassen - um jenes Triebes willen!! (...) Die Huren sind ehrlich und tun, was ihnen lieb ist und ruinieren nicht den Mann durch das 'Band der Ehe' - diese Erdrosselung."

   (Endnote 334: Nietzsche 1980, Fragmente, S. 189-190; vgl. zu Nietzsche Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, S. 66 ff.)

Solche Überlegungen und Ängste müssen dem Junggesellen Julius Klaus besonders entsprochen haben. Auf Weltreise mit einem Freund besichtigte der aus Wetzikon stammende Klaus am 8. Mai 1894 auch das Athener Findelhaus. Dort "warf er die Frage auf, ob eine solche Anstalt wirklich eine Wohltat sei und ob es nicht humaner wäre, die kränklichen und missgebildeten Geschöpfe künstlich auszuschalten". Kurz vor seinem Ableben [[kurz vor 1920]] fasste Klaus den "Entschluss, sein Vermögen dem Zweck der Rassenverbesserung der Menschheit zu stiften".

[1920: Gründung der Klaus-Stiftung für die "praktische Rassenhygiene" unter Prof. Otto Schlaginhaufen - Finanzierung von Expeditionen, von "rassenhygienischen" Forschungsarbeiten und von eugenischen "Eheberatungsstellen" etc.]

Der Zürcher Anthropologieprofessor Otto Schlaginhaufen

   (Endnote 335: Vgl. zu Schlaginhaufens Leben Keller 1995, Schlaginhaufen)

brachte Klaus davon ab, sein Legat ausschliesslich für "praktische Massnahmen" einzurichten; vielmehr diente es fortan als Finanzpolster für "die Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen für eine später in Gang zu setzende praktische Rassenhygiene".

   (Endnote 336: Alle drei Zitate aus Schlaghinhaufen 1925, Klaus, S. 6-7)

Kuratoren der 1920 gegründeten Stiftung waren neben ihrem Präsidenten auf Lebenszeit Schlaginhaufen auch

-- der Zürcher Regierungsrat Heinrich Mousson
-- der Zürcher Professor für Gerichtsmedizin und Schweizer Interpol-Delegierte Heinrich Zangger

   (Endnote 337: Zu Zangger vgl. Huber 1935, Festschrift; Huonker / Ludi 2000, Roma, S. 39-43)

-- sowie der Botanikprofessor Alfred Ernst.

Die Klaus-Stiftung finanzierte fortan zwar vor allem Schlaghinhaufens und Ernsts eigene Forschungen, beispielsweise teure Expeditionen in entlegene Weltregionen, aber auch viele "rassenhygienische" Forschungsarbeiten in der Schweiz. Und zwar nicht nur all diejenigen

(S.87)

welche im "Archiv der Julius-Klaus-Stiftung für Sozialanthropologie und Rassenhygiene" erschienen,

   (Endnote 338: So z.B. Dach 1941, Unfruchtbarmachung; vgl. dazu Harrasser 1942, Dach)

sondern auch selbständige Publikationen, so den Sammelband von Zurukzoglu.

   (Endnote 339: Zurukzoglu 1938, Verhütung)

Die Stiftung bezahlte auch Beiträge an die Tätigkeit von Eheberatungsstellen "eugenischer" Ausrichtung.

   (Endnote 340: Keller 1996, Schädelvermesser, S. 190)

Zudem abonnierte die Klaus-Stiftung selber Zeitschriften und erwarb einen grossen Bücherbestand, der in der Zentralbibliothek Zürich separat katalogisiert ist. Er dokumentiert die ideologischen und wissenschaftlichen Vorlieben Schlaginhaufens.

Die Julius-Klaus-Stiftung existiert heute noch und finanziert nach wie vor Vererbungsstudien an Menschen und Affen, nunmehr aber im Umfeld der Gentechnik. Zur Zeit [[2002]] unterstützt die Stiftung ein Forschungsprojekt betreffend "Erbliche Schwerhörigkeit: Neue Möglichkeiten der Diagnostik"

   (Endnote 341: Hergersberg / Weigell-Weber 2000, Schwerhörigkeit)

am Institut für medizinische Genetik der Universität Zürich. Das anthropologische Institut nutzt Gelder der Klaus-Stiftung zur Beforschung gefangengehaltener südamerikanischer Göldi-Affen (Callimico goeldii).

(S.88)


Der "eugenische" Kongress von 1934 im Zürcher Hotel Waldhaus Dolder

[Rassistische Zürcher "Professoren" Schlaghinhaufen und Maier fördern die Auslese-Theorien der Eugenik - die grosse Nazi-Delegation aus dem Hitlers Reich - "amerikanische", englische und französische Fragen - "US"-Appell, Schwarze und Indios nicht nach weissen Kriterien zu testen - das Nazi-Ziel vom "erbgesunden deutschen Volk" - Sterilisation gilt in der Schweiz als "Therapiemassnahme" und braucht kein Gesetz]

Otto Schlaghinhaufen und Burghölzli-Direktor Hans W. Maier, beide Professoren der Universität Zürich, luden als führende Repräsentanten der schweizerischen "eugenischen" Organisationen, nämlich der Julius-Klaus-Stiftung einerseits und der Schweizerischen Psychiatrischen Gesellschaft andererseits, auf den 18. Juli 1934 zur elften Versammlung der weltweiten "eugenischen" Bewegung in Zürich ein.

Der elfte Kongress der I.F.E.O. fand vom 18. bis zum 21. Juli 1934 im Zürcher Hotel Waldhaus Dolder statt. Schlaginhaufen und Maier wechselten sich im Tagesvorsitz der Versammlung ab.

Die "Rassenhygieniker" waren 1934 [[nach der Errichtung der Nazi-Diktatur in ganz Deutschland ab 1933]] im Aufwind. Auf das Zwangssterilisationsgesetz im Kanton Waadt waren ähnliche Bestimmungen in Skandinavien und vor allem das deutsche "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" gefolgt. Die beiden Forel-Schüler Ernst Rüdin und August Ploetz konnten mit geschwellter Brust im Hotel Dolder Einzug halten, hatten sie doch ihre Ziele unter Hitler durchgesetzt und konnten nun im grossen Stil umsetzen, was sie seit Jahrzehnten propagierten.

Christoph Keller schildert den Verlauf der Tagung anschaulich.

   (Endnote 342: Keller 1996, Schädelvermesser, S. 176-186)

Rüdin und Ploetz hatten neben anderen Gleichgesinnten in der grossen deutschen Delegation

-- Walter Gross vom Rassenpolitischen Amt Berlin
-- Falk Ruttke, Beirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik beim Reichsministerium des Innern
-- Professor Astel, Präsident des Rasseamts Thüringen, und
-- Lothar Loeffler vom Erbgesundheitsgericht Kiel

mitgebracht. Auch der Vererbungsforscher Professor Othmar Freiherr von Verschuer fehlte nicht.

Amerikanische, englische und französische Delegierte stellten, neben Präsentationen des eigenen "eugenischen" Wirkens, auch kritische Fragen an die Deutschen. Aus dem offiziellen Bericht der Julius-Klaus-Stiftung über die Tagung

   (Endnote 343: Bericht 1935, I.F.E.O.)

geht aber hervor, wie sehr die Deutschen den Anlass dominierten.

Der Kongress begann mit einem Vortrag Rüdins über "Rassenpsychiatrie".

   (Endnote 344: Rüdin 1935, Rassenpsychiatrie)

Nach

(S.88)

zwei Vorträgen aus England und Dänemark folgte Loefflers Schilderung der 300 seit 1933 allein in Kiel erfolgten Zwangssterilisationen.

   (Endnote 345: Bericht 1935, I.F.E.O., S. 20-22)

Zwischendurch setzte der US-Wissenschafter Morris Steggerda einen Gegenakzent mit seinem Statement, es sei unwissenschaftlich, amerikanische Schwarze und Indigene deshalb als "inferior" oder "primitiv" zu bezeichnen, weil sie in Tests, die auf die weisse Mehrheitskultur ausgerichtet waren, schlechter abschnitten.

   (Endnote 346: Steggerda 1935, Psychometry)

Hierauf folgte das Referat Verschuers über Zwillingsforschung.

   (Endnote 347: Verschuer 1935, Zwillinge)

Nach einem Referat aus Holland über "Die Entwicklung der Eugenik in der Welt" mit dem Untertitel "Unfruchtbarmachung und Psychiatrie"

   (Endnote 348: Frets 1935, Entwicklung)

hielt Falk Ruttke sein Referat "Erbpflege in der deutschen Gesetzgebung", das noch als "gekürzte Wiedergabe" sieben Seiten des Kongressberichts umfasst und mit den Worten endete:

"So kann erwartet werden, dass die von der Regierung Adolf Hitler erlassenen Gesetze [...] die Voraussetzung schaffen werden, ein erbgesundes deutsches Volk zu schaffen und zum Vorbild für die Welt zu werden."

   (Endnote 349: Ruttke 1935, Erbpflege, S. 63)

Der Tagesvorsitzende Hans W. Maier hielt anschliessend sein Referat sehr kurz und auf englisch, um einige vom deutschen Auftrumpfen angewiderte angelsächsische Teilnehmer zu besänftigen. Ich zitiere den ersten Teil von Maiers Votum, wörtlich ins Deutsche rückübersetzt:

"Die Arbeit in der Schweiz ist von Ort zu Ort verschieden, da jeder unserer 25 Kantone eigene Gesundheitsdienste hat. Der Kanton Waadt erliess das erste Gesetz zur Zwangssterilisierung in Europa, mit Einschluss der Abtreibung aus eugenischen Gründen. Wir sind jedoch in einer vorteilhaften Lage, denn 1912 wurde ein Gesetz beschlossen, das die Ehe von Geisteskranken verbot, und wir hatten lange Zeit gänzliches Einverständnis zwischen Medizinern und Juristen bezüglich Sterilisation, welche hierzulande keine spezielle Gesetzgebung erfordert, da sie als eine ausgeweitete Therapiemassnahme betrachtet wird, und als ein notwendiger Teil der Präventivmedizin. Wir finden keine Opposition, sofern wir uns anstrengen, die Betroffenen zu überzeugen."

   (Endnote 350: Bericht 1935, I.F.E.O, S. 76)

(S.89)


Kommissionen, Firmen, Zeitschriften

[Die Schweizerische Gesellschaft für Vererbungsforschung 1941-1970 - die Kommission für die Erbbiologie des Menschen 1943 - Chemiefirmen als Kollektivmitglieder: Roche, Geigy, Sandoz, Wander, Nestlé - Genetikkurse an Spitälern]

Eine weitere Organisation der Schweizer "Erbbiologen" war die Schweizerische Gesellschaft für Vererbungsforschung (Société Suisse de Génétique). Sie existierte von 1941 bis 1970 und publizierte ihre Jahresberichte mit Unterstützung der Klaus-Stiftung. Aus dieser Organisation ging 1943 die "Kommission für die Erbbiologie des Menschen" hervor, präsidiert von Manfred Bleuler.

Beide [[Gesellschaften]] hatten vor allem Mediziner in der Mitgliedschaft. Kollektivmitglieder der Gesellschaft für Vererbungsforschung waren zudem die Firmen Hoffmann-LaRoche, Geigy, Sandoz, Wander und Nestlé.

   (Endnote 351: Ernst 1944, Jahresbericht, S. 445, S. 557)

Die Gesellschaft [[für Vererbungsforschung]] führte 1944 in Zusammenarbeit mit der medizinischen Fakultät der Universität Zürich, der Ärztegesellschaft Zürich und der Hygiene-Kommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft in verschiedenen Abteilungen der Zürcher Kantonsspitäler einen Fortbildungskurs über "Genetik für Ärzte und Biologen" durch. Professor Hans R. Schinz, Fachmann für Röntgenkastration,

   (Endnote 352: Schinz 1922, Röntgenkastration; vgl. zu Schinz auch Schmid 1986, Radiologie)

referierte in der Kinderklinik über "spontane und experimentelle Mutation", der Berner Zoologie-Professor Baltzer sowie Ernst Hanhart referierten über Zwillingsforschung, Professor

(S.89)

Nager über Ohrkrankheiten und Augenarzt Wagner über "Vererbung von Augenleiden". Carl Brugger propagierte "Erbhygienische Bevölkerungspolitik". Den Abschluss machte Manfred Bleuler mit Ausführungen über "psychiatrische Erbprognose" betreffend "Schizophrenie", Epilepsie und Depressivität.

   (Endnote 353: Ernst 1944, Jahresbericht, S. 552)

Als Präsident der "Kommission für die Erbbiologie des Menschen" wurde Bleuler auch in eine Expertenkommission des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements abgeordnet, "welche Durchführungsbestimmungen des Eheverbotes für Geisteskranke des Art. 97 ZGB bearbeiten soll (bekanntlich werden die gesetzlichen Vorschriften über das Eheverbot Geisteskranker nur äusserst mangelhaft befolgt)".

   (Endnote 354: M. Bleuler 1943, Tätigkeitsbericht, S. 553)

[1934: Zeitschrift "Gesundheit und Wohlfahrt" unter ETH-"Professor" Wilhelm von Gonzenbach - Eugenik = "Generationshygiene" - Rudolf Lämmel: "Grundprobleme der Rassentheorie"]

Eine wichtige Plattform für die Schweizer "Eugeniker" war die vom ETH-Professor für Hygiene, Wilhelm von Gonzenbach, herausgegebene Zeitschrift "Gesundheit und Wohlfahrt", die vor 1934 "Schweizerische Zeitschrift für Hygiene" geheissen hatte. Gonzenbach kritisierte zwar immer wieder den Antisemitismus der nazistischen Bevölkerungspolitik, propagierte aber noch 1945 die "Erb- und Generationshygiene, deren schicksalshafte Bedeutung für das ganze Volk und seine Zukunft uns erst in den letzten Jahren deutlich bewusst wird."

   (Endnote 355: Gonzenbach 1945, Gesundheit, S. 152)

Ähnlich hatte es Wilhelm von Gonzenbach schon im Vorwort zu Rudolf Lämmels Buch über "Grundprobleme der Rassentheorie" formuliert:

"Unmissverständlich und deutlich werden die Grundzüge [...] einer wahren, aus objektiver Lebensbeobachtung abgeleiteten Generationshygiene oder Eugenik entwickelt."

   (Endnote 356: Gonzenbach 1936, Vorwort, S. VI)

Lämmel war zwar, wie auch sein Verleger Hans Oprecht, der frühere Zürcher Amtsvormund, ein entschiedener Gegner Hitlers. Lämmel schrieb aber zur "Frage, wie wir eine gesunde Rasse gegen kranken Nachwuchs schützen können":

"Hier sehen wir einen der wenigen Punkte, wo wir wenigstens grundsätzlich den Standpunkt der Herren des Dritten Reiches billigen und teilen. Es ist richtig, dass die menschliche Gesellschaft in vielen Fällen grosses Unheil und schwere wirtschaftliche Belastung von sich abwenden kann, wenn man wenigstens in den ganz krass gelagerten Fällen die Vermehrung erblich schwer kranker Menschen verhindert."

   (Endnote 357: Lämmel 1936, Rassen, S. 253)

[Eugenische Artikel in der "Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit"]

Auch die "Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit" öffnete der "Eugenik" ihre Spalten, und zwar unter Mitberücksichtigung von Kritikern, die es auch gab. Es war ja durchaus nicht so, dass die Verfechter von "Eugenik", "Rassenhygiene" und "Erbhygiene" in der Schweiz irgendwie zu dieser Denkrichtung gezwungen worden wären; das war ihre Wahl und Ausdruck ihrer persönlichen Entscheidungen und Vorlieben. Sie standen nicht unter Zwang, setzten aber die Opfer ihrer Bevölkerungspolitik starkem kollektivem und persönlichem Druck mit einschneidenden Folgen aus.

[Jahresversammlung 1934 "Liestaler Tagung" mit Kritik von Pfarrer Grossmann: Ein Erbgesundheitsgericht kann vor Gott nicht bestehen]

Eine kritische Stimme der Debatte über "Das Problem der Verhütung erbkranken Nachwuchses unter besonderer Berücksichtigung der Sterilisationsfrage" an der Jahresversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1934 in Liestal war Pfarrer Grossmann aus Zürich. Er kritisierte die Einteilung in "Normale" und "Abnormale":

(S.90)

"Einem Beethoven wäre nach dem deutschen Sterilisationsgesetz die Geburt nicht erlaubt worden, denn er stammte aus belasteter Trinkerfamile. Doch gehen wir vom medizinischen auf den theologischen Boden hinüber. Das Menschenleben hat nicht nur eine diesseitige, sondern auch eine jenseitige Beziehung. Über den letzten Wert oder Unwert eines Menschenlebens urteilt nicht ein Erbgesundheitsgericht, sondern Gott selbst. Wenn ich das nicht glauben könnte, würde ich heute noch aufhören, evangelischer Pfarrer zu sein. Vor jenem letzten Gericht mag das Leben manches Erbkranken höher taxiert werden als das Leben manches hundertprozentigen Durchschnittsnormalen. Lasst uns das nicht vergessen. Was heisst übrigens letzten Endes 'normal'?"

   (Endnote 358: Grossmann 1934, Votum, S. 428)

Grossmann empfand das Vorgehen der Nazis als barbarisch:

"Die Einrichtung eines solchen Inquisitionsgerichtes, das überall Erbschäden aufschnüffeln und die davon Betroffenen mit Polizeigewalt auf den Operationstisch schleppen soll, ist eine in Gesetzesform verkleidete Barbarei." [[verbunden mit Todesgefahr]].

   (Endnote 359: Grossmann 1934, Votum, S. 431)

Pfarrer Grossmann befürwortete allerdings die strafweise Kastration von Sittlichkeitsverbrechern sowie, eingeschränkt, auch die freiwillige Sterilisation.

   (Endnote 360: Grossmann 1934, Votum, S. 430)

[Arzt L. Huber für Sterilisierung als Strafe - die Enzyklika "Casti connubii" 1930 gegen Eugenik - katholische Länder]

Ebenfalls gegen "eugenische" und gegen freiwillige Sterilisierungen, aber für Unfruchtbarmachung als Strafe sprach sich der katholische Arzt L. Huber aus

   (Endnote 361: Huber 1934, Votum, S. 442-443)

und berief sich dabei auf die Enzyklika "Casti connubii", die Papst Pius XI. am 31. Dezember 1930 erlassen hatte.

   (Endnote 362: Diesbezügliche Auszüge aus der Enzyklika lateinisch und deutsch in Zurukzoglu 1938, Verhütung, S. 317-318)

Die Enzyklika bremste die "Eugenik" in den katholischen Ländern. "Diese auf Aufzucht des Untermenschentums ausgehende päpstliche Enzyklika" wurde hingegen von Nationalsozialisten wie Alfred Rosenberg "als widernatürlich und lebensfeindlich" bekämpft.

   (Endnote 363: Zitiert nach Poltrot 1945, Ermordete, S. 15)

[Gynäkologe Reist sterilisiert Frauen nach der Geburt - Reist fordert den Kampf gegen die "Verseuchung" durch "Minderwertige" zum Schutz der "erbgesunden Bevölkerung" - Reist lobt die Sterilisierungen speziell im Kanton Zürich]

Das Einstiegsreferat der Liestaler Tagung hielt der Gynäkologe an der Pflegerinnenschule Zürich, Alfred Reist. Er hatte die Technik, Frauen unmittelbar nach der Geburt zu sterilisieren, 1933 als erster praktiziert.

   (Endnote 364: Eberhart 1968, Verarbeitung, S. 24. Vgl. Vala 1957, Sterilisation)

Reist propagierte unter Berufung auf Hans W. Maier die ärztlicherseits "eugenisch" indizierte Sterilisation ohne gesetzliche Regelung als Kampf gegen die "Verseuchung" durch "Minderwertige":

"Nach Prof. Maier finden wir [...], dass beispielsweise im Kanton Zürich von 650.000 Einwohnern ungefähr 3000 Geisteskranke in Anstalten untergebracht sind und gut zehnmal so viel noch frei in der Bevölkerung leben. Diese grosse Zahl stellt für die übrige Bevölkerung nicht nur eine kolossale Last dar, sondern bedeutet, da ein grosser Teil dieser sichtbar mit erblichen Geisteskrankheiten Belasteten auch wieder Nachkommen hat, eine Gefahr der weitergehenden Verseuchung der erbgesunden Bevölkerung mit krankhaften Erbanlagen. Es kommt noch hinzu, dass ein grosser Prozentsatz dieser Nachkommen auch sonst minderwertige, lebensuntüchtige, asoziale Glieder der Menschheit werden. Das gleiche gilt auch von den Gewohnheitstrinkern, Gewohnheitsverbrechern, Sittlichkeitsverbrechern, Dirnen, Zwangs- und Fürsorgezöglingen etc., die alle durch ihr Verhalten ihre schwere psychopathische Konstitution dokumentieren."

   (Endnote 365: Reist 1934, Referat, S. 413)

Reist lobte die Zürcher Praxis [[der massenweise Sterilisationen]]:

"In der Schweiz und speziell im Kanton Zürich werden seit langer Zeit unbeanstandet

(S.91)

Sterilisationsoperationen aus eugenischen Gründen beim Manne und bei der Frau vorgenommen. Diese Sterilisationsoperationen sind bis jetzt prinzipiell in freiwilligem Einverständnis mit dem Patienten erfolgt und in Fällen fehlender Handlungsfähigkeit dazu noch im Einverständnis mit den Vormundschaftsbehörden. Zwischen den ärztlichen Instanzen und den Behörden hat sich auf diese Weise auf dem Gebiete der Sterilisationsoperationen aus eugenischen Gründen eine freiwillige Zusammenarbeit entwickelt, welche Prof. H.W. Maier, der derzeitige Direktor der Psychiatrischen Klinik in Zürich, der sich seit Jahren in verdienstvollster Weise mit dem Sterilisationsproblem und seiner Beziehung zur Gesetzgebung befasst, für besser hält als eine Regelung durch gesetzliche Vorschriften",

   (Endnote 366: Reist 1934, Referat, S. 419)

letzteres nicht zuletzt wegen der "Befürchtung Prof. Maiers, dass durch Gesetzesvorschriften über die Sterilisierung in weiten Volkskreisen eine zu grosse und oft unbegründete Ängstlichkeit vor der Übertragung von Erbkrankheiten entstünde, wodurch die Neigung zum Heiraten und besonders zur Kindererzeugung beeinträchtigt würde, was bei dem sowieso von Jahr zu Jahr steigenden Geburtenrückgang unerwünscht wäre."

   (Endnote 367: Reist 1934, Referat, S. 423)

(S.92)


[Zürich 1935]: Amtsvormund Schneider über Sterilisationen und Kastrationen von Mündeln

[Schneiders Bericht über Sterilisationen bei Männern und Frauen - die Erpressung zur Sterilisation mit der Drohung der lebenslänglichen Anstaltsverwahrung - Lob für das Waadtländer Eugenikgesetz zur Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung]

Reists Lob der Zürcher Sterilisierungspraxis im Jahr 1934 harmonierte mit den Ausführungen des Zürcher Amtsvormunds Robert Schneider ein Jahr später in derselben Zeitschrift unter dem Titel

"Wie sich ein Fürsorger zur Frage der Sterilisation äussert".

   (Endnote 368: Schneider 1935, Sterilisation)

Schneiders Aufsatz beruht auf einer Diplomarbeit an der sozialen Frauenschule, verfasst von Rosina Casparis zum Thema

"Untersuchung über Sterilisation an den weiblichen Schützlingen der Amtsvormundschaft Zürich".

Diese Arbeit fehlt, wie auch einige andere solcher Diplomarbeiten, in den Bibliotheken, welche sonst die meisten dieser Arbeiten besitzen.

Schneider berücksichtigte auch die Sterilisationen und Kastrationen an Männern und gab "eine kleine Statistik, nach der wir auf der Amtsvormundschaft Zürich seit ihrem Bestehen, d.h. seit 1908, im ganzen rund 60 Fälle von Sterilisationen und 6 Kastrationen zu verzeichnen haben."

   (Endnote 369: Schneider 1935, Sterilisation S. 4)

Davon waren mindestens 51 Fälle, also die grosse Mehrheit, Frauen.

   (Endnote 370: Schneider 1935, Sterilisation S. 5)

Schneider meinte: "Diese Zahlen sind verschwindend klein im Verhältnis zu den vielen 1000 Schützlingen, die wir betreuen oder betreut haben."

   (Endnote 371: Schneider 1935, Sterilisation S. 4)

Und er betonte: "Zustimmung des Betreffenden und Zuziehung des Arztes, des Psychiaters ist Voraussetzung in allen Fällen."

   (Endnote 372: Schneider 1935, Sterilisation S. 5)

Die Sterilisation an Mündeln der Amtsvormundschaft waren überwiegend "eugenisch" begründet. "Von den drei Indikationen zur Sterilisation kommt für uns nach dieser Zusammenstellung hauptsächlich die eugenische in Frage, während die rein medizinische und die soziale Indikation seltener sind."

   (Endnote 373: Schneider 1935, Sterilisation S. 6)

Schneider befürwortete die Praxis, durch Drohung mit ansonsten lebenslänglicher Anstaltsverwahrung die "freiwillige" Operationseinwilligung der Kastrierten und Sterilisierten zu erlangen, als besonders "menschlich":

"Ist es nicht menschlich, derartige Individuen durch solche Eingriffe wieder der Freiheit zurückzugeben, aus der Anstaltsfürsorge, die für sie eine lebenslängliche gewesen wäre, wieder zu entlassen und dem Staat und der Gemeinde grosse Internierungskosten zu ersparen?"

   (Endnote 374: Schneider 1935, Sterilisation S. 8)

Schneider betont somit das, was der Berner Regierungsrat Dürrenmatt mit seinen Richtlinien

(S.92)

verhindern wollte, nämlich Ersparnis von Fürsorgekosten durch operative Unfruchtbarmachung.

Robert Schneider machte sich auch innerhalb des Stadtzürcher Fürsorgewesens für "Eugenik" stark. Er schrieb am 28. Januar 1933 einen Brief an den Vorstand des Wohlfahrtsamts, Stadtrat Gschwend, worin er das Waadtländer Gesetz lobte, das ja nicht nur Handhabe zur Zwangssterilisation, sondern auch zur Zwangsabtreibung bot, und regte an, in Zürich solle "in Verfolgung der damit eingeschlagenen Richtung auch die Abortfrage aus eugenischer Sicht geprüft werden."

   (Endnote 375: Robert Schneider an Jakob Gschwend, 18.1.1933, Stadtarchiv Zürich, Bestand V.J.a.64)

Robert Schneider wurde am 1. Januar 1934 zum 1. Amtsvormund ernannt, "mit einer Zulage von jährlich Fr. 800.-"

   (Endnote 376: Stadtarchiv Zürich, Bestand V.J.a.64, Dienstchefkonferenz, Protokoll 1934, Nr. 444)

(S.93)


"Die nicht nachkontrollierbare Bedrohung mit Sterilisation als Begründung für die Emigrantenqualität wäre ein gefundenes Fressen für diese Kreise"

Die Schweiz und die "Eugenik" während und nach dem Zweiten Weltkrieg

[Wie Schweizer im Dritten Reich bewertet wurden - Sterilisation kommt billiger als eine "Heimnahme" der "Krüppel" - die "Kostenlogik" - Nachrichten über Beseitigung von Krüppeln im Hitler-Reich]

Schweizer Behörden waren seit 1933 mit der Auffassung der Nazis konfrontiert, das deutsche "Erbkranken"-Gesetz gelte auch für schweizerische Bewohner des Reichs. Gemäss Rothmunds Organigramm der Polizeiabteilung war der Beamte Ernst Scheim für "Internationales" und "Zigeuner" zuständig.

   (Endnote 377: Vgl. die Organigramme von 1929 und 1930 im Bundesarchiv Bern, Bestand E 21 20613)

Scheim verfasste 1934 eine "Notiz zur Frage der Heimnahme von Schweizern, die in Deutschland sterilisiert werden sollen". Die "Sterilisation Anormaler", befand Scheim, sei "nicht das dümmste, was im Dritten Reich gemacht werde. Wir müssen jedenfalls die Sache ruhig betrachten und uns nicht, wie ich es anfangs auch getan habe, aufregen. Können wir oder wollen wir eine Erklärung der deutschen Behörden nicht bewirken, dass an Schweizern die Sterilisation nicht durchgeführt werde, (das deutsche Auswärtige Amt steht auf dem Boden, das Erbgesundheitsgesetz sei auf Schweizer und überhaupt auf Ausländer auch anwendbar), so glaube ich, dass wir uns mit der Sachlage abfinden sollten. [...] Im Falle der Heimnahme wäre die Gemeinde gezwungen, den Krüppel dauernd auf ihre Kosten zu versorgen [...]. Da wohl 90% der für die Sterilisation Vorgesehenen arbeitsunfähige Krüppel sind, dazu meist in jüngeren Jahren, weil ja nur fortpflanzungsfähige Individuen sterilisiert werden, so hätten die Gemeinden das zweifelhafte Vergnügen, die Betreffenden in Dauerversorgung zu übernehmen."

   (Endnote 378: Bundesarchiv Bern, Bestand E 4260 (C) 1974/34, 22. Publiziert in: Documents diplomatiques suisses, 1989, Bd. 11, S. 542-543)

Eine ähnliche Argumentation in reiner Kostenlogik äusserte Scheim auch gegenüber Schweizern im deutschen Herrschaftsbereich, denen "Euthanasie" drohte. Die Propagierung der 1939 anlaufenden Ausmerzung von Geisteskranken in Büchern, Filmen

   (Endnote 379: Vgl. Roth 1986, Filmpropaganda)

und Zeitungsartikeln war in Deutschland ähnlich offen gewesen wie diejenige der "Ausmerzung Fremdrassiger". Bundesstellen in Bern waren zudem durch Konsul Franz Rudolph von Weiss in Köln zusätzlich und genau auf diplomatischem Weg über die Massentötungen informiert worden. Weiss hatte am 30. Dezember 1940 dem

(S.93)

Departement für Auswärtiges mitgeteilt, "vor einigen Monaten schon zirkulierte hier das Gerücht, dass Insassen von epileptischen und Heil- und Pflegeanstalten auf geheimnisvollem Weg beseitigt würden."

   (Endnote 380: Zitiert nach Haas 1994, S. 67)

Dies sei ihm nun durch eine Kopie des diesbezüglichen Protestschreibens des evangelischen Landesbischofs Wurm an Reichsinnenminister Frick sowie durch Aussagen von Zuständigen bestätigt worden.

   (Endnote 381: Haas 1994, S. 67)

Am 23. Januar 1941 benachrichtigte die schweizerische Gesandtschaft in Berlin die Polizeiabteilung, dass gemäss einer Mitteilung des schweizer Konsuls in Bregenz vom 15. Januar "die Landes-Heil- und Pflegeanstalt (Irrenanstalt) 'Valduna' in Rankweil, Vorarlberg, aufgehoben werden soll. In dieser Anstalt waren bisher ca. 70 Pfleglinge schweizerischer Staatsangehörigkeit untergebracht."

   (Endnote 382: BAR E 4260 (C) 1969/140, 18e)

Der schweizer Konsul in Bregenz drängte auf die Heimschaffung der schweizer Insassen. Der zuständige Berner Beamte Scheim wartete einige Tage zu und riet dann von der Heimschaffung ab. Er empfahl die Umplatzierung in andere deutsche "Heilanstalten" und verwies dilatorisch auf ein Verfahren gemäss Bestimmungen aus dem Jahre 1909:

"Wir ersuchen Sie, bei der zuständigen deutschen Stelle vorstellig zu werden

[[ab 1938 galten alle Österreicher als "Deutsche"]]

und darauf hinzuweisen, dass für diese Pfleglinge die Unterhaltsgelder von den hiesigen Armenpflegen und von Privatpersonen bezahlt werden. Die Pfleglinge sollten demnach nicht ohne weiteres nach der Schweiz verbracht werden, sondern wenn möglich in andern deutschen Heilanstalten Aufnahme finden. Sollte die Heimschaffung der 70 Pfleglinge nicht zu umgehen sein, so wären für diese gemäss dem Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland vom 13. November 1909 Übernahmebegehren zu stellen."

   (Endnote 383: Scheim an Konsulat Bregenz, 7.2.1941. Bundesarchiv Bern, Bestand E 4260 (C) 1969 / 140, 18)

Doch der Konsul organisierte entgegen den Weisungen aus Bern in direkter Zusammenarbeit mit den Heimatgemeinden die Rückschaffung der Pfleglinge in die Schweiz.

   (Endnote 384: Bundesarchiv Bern, Bestand 4260 (C) 1969/140, 18. Vgl. auch Egger 1989, Ausgrenzen)

(S.94)


"Weil ich mich nicht sterilisieren lassen wollte, flüchtete ich in die Schweiz"

[Deutsche flüchten vor Zwangspsychiatrie und Zwangs-Sterilisierungen in die Schweiz - die CH-Politik lässt weiter sterilisieren - Polizeiabteilungsbeamter Simmen lehnt politisches Asyl ab und lobt die Pionierfunktion der Schweiz in Sachen Sterilisationen - Simmen: die "unerwünschten Gäste" aus Deutschland - willkürliche Milde oder Ausschaffung]

Bundesstellen schätzten die Pionierrolle der Schweiz in der "Eugenik" auch dann noch hoch ein, als von der deutschen Zwangssterilisationspolitik Bedrohte Zuflucht in der Schweiz suchten. So der deutsche Hausierer Franz S., der am 20. Oktober 1941 im zürcherischen Dachsen am Rhein als Flüchtling verhaftet wurde. Er sagte:

"Weil ich [...] mich nicht sterilisieren lassen wollte, flüchtete ich in die Schweiz."

   (Endnote 385: Bundesarchiv Bern, Bestand E 4264 (-)1985/196, 111)

Die Polizeiabteilung verfasste einen siebenseitigen "Aktenbericht zum Falle S.".

   (Endnote 386: Bundesarchiv Bern, Bestand E 4264 (-)1985/196, 111)

Der Bericht hielt fest, S. sei "1931 Mitglied der KPD geworden" und habe "mehrmals den Moskauer Sender" gehört. Das galt im Dritten Reich als "Hochverrat" und wurde mit Arbeitslager bestraft. Der "Hochverräter" war auch psychiatrisiert worden. Zu seiner Behandlung in der psychiatrischen Klinik Bonn fasst der Berner Aktenbericht die Aussagen von S. so zusammen:

"Auf sein Entlassungsbegehren hin habe der Arzt [...] eine Insulinkur angeordnet, um sein Nervensystem wieder zu zerrütten. Die Diagnose habe auf Schizophrenie gelautet. S. wirft dem dortigen Arzt vor, er habe als SA-Mitglied ihn als Kommunisten (ehemaligen) zu verderben gesucht. Man habe ihn mit Morphium-

(S.94)

und Skopolamin-Injektionen vor dem Termin 5 Tage lang bewusstlos gehalten, um ihm eine Verteidigung zu verunmöglichen. Die entscheidende Behörde habe nur aufgrund seiner Bestrafung auf Sterilisation entschieden."

Der Polizeiabteilungsbeamte Simmen lehnte politisches Asyl für S. ab:

"S. ist zweifellos kein Individuum, auf dessen Anwesenheit die Schweiz Wert legen wird. [...] Ihn aus politischen Gründen zu privilegieren, liegt kein Grund vor. Er ist wegen Vorbereitung des Hochverrates verurteilt worden und hat seine Strafe abgesessen. [...] Wenn die deutschen Behörden ihm Vorbeugungshaft bis Kriegsende angedroht haben, so ist das eine heute draussen gebräuchliche Massnahme und Folge seines (nach deutschem Recht) kriminellen Verhaltens. Es kann dies nicht als politische Verfolgung qualifiziert werden."

Zum "Problem der Sterilisation" als Fluchtgrund schrieb Simmen:

"Wichtig für uns ist die Frage der eugenischen Indikation, der Sterilisation zur Verhütung biologisch minderwertigen Nachwuchses. Es handelt sich hier um die Ausschaltung erbkranker Elemente von der Fortpflanzung. Es wäre wünschenswert, wenn einmal zu der Frage grundsätzlich Stellung genommen würde, ob die Sterilisation auf Grund einer eugenischen Indikation dem schweizerischen ordre public [[öffentlichen Recht]] in solchem Masse widerspricht, dass dadurch eine Ausschaffung ausgeschlossen wird. Meines Erachtens kann diese Frage ganz grundsätzlich verneint werden."

Stimmen verwies in einem historischen Überblick auf das Waadtländer Gesetz und auf "die reiche und systematische Kastrations- und Sterilisationspraxis" im Burghölzli [[in der Psychiatrie in Zürich]]:

"Die Schweiz hat gerade in dieser Bewegung eine bahnbrechende Rolle gespielt. Sie war das erste Land in Europa, in dem dieses Problem praktische und gesetzliche Form angenommen hat. Der Pionier, der schon im letzten Jahrhundert für die Verwirklichung sich eingesetzt hat, war Prof. Auguste Forel. Seit 1905 hat im Burghölzli eine reiche und systematische Kastrations- und Sterilisationspraxis die Zustimmung der Verwaltungsbehörden gefunden. Die Schweiz ist auch das erste Land Europas, in dem eine gesetzliche Regelung dieses Problems getroffen wurde, die nicht das Einverständnis des zu Sterilisierenden voraussetzt, sondern dieses durch den Entscheid eines Gesundheitsrates ersetzt. Der Kanton Waadt ist mit seinem Gesetz vom 3.9.1928, betr. die 'Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger' (Irrengesetz von 1901, IV. Abschnitt) auch gesetzgeberisch bahnbrechend geworden. Von dieser rechtlichen Möglichkeit ist sehr häufig Gebrauch gemacht worden.

Zusammen mit der Stellungnahme des Gesetzgebers in den Abtreibungsfragen zum Strafgesetzbuch muss in Anbetracht dieser Tatsachen ganz grundsätzlich festgehalten werden, dass eine Sterilisation unserer ordre public [[öffentliches Recht]] nicht widerspricht, dass prinzipielle, ethische Gründe eine Ausschaffung eines mit dieser Massnahme Bedrohten nicht verhindern."

Simmen befürchtete auch weitere Präzedenzfälle:

"Es bleiben uns genug dieser unerwünschten Gäste in der Schweiz hängen, ohne dass

(S.95)

jetzt noch Platz für eine neue Kategorie eröffnet wird aus pseudohumanitären Gründen. Zudem sprechen sich in Emigrantenkreisen solche Dinge mit manchmal unbegreiflicher Schnelligkeit herum, und die nicht nachkontrollierbare Bedrohung mit Sterilisation als Begründung für die Emigrantenqualität wäre ein gefundenes Fressen für diese Kreise und eine nicht abreissende Kette von Schwierigkeiten für die Fremdenpolizeibehörden."

Doch liess Polizeiabteilungschef Rothmund in diesem Fall Milde walten und verfügte für den Flüchtling S. am 11. Mai 1942 die Internierung in Witzwil statt der von Simmen beantragten Ausschaffung.

Ausgeschafft wurde aber noch im September 1944 der Sinto [[Zigeuner der Sinti]] Anton Reinhardt, der aus dem Spital Waldshut, wo er zwangssterilisiert werden sollte, geflohen und über den Rhein geschwommen war.

   (Endnote 387: Vgl. Huonker / Ludi 2000, Roma, S. 69-70)

[[Es scheint den Verantwortlichen in der Schweiz keine Anerkennung wert, wenn jemand den Rhein durchschwimmen kann...]]

Reinhardt wurde am Ostersamstag 1945 von der SS erschossen.

[1945]: Die Ausbürgerung Ernst Rüdins

[Dem schweizerischen Eugenik-Chefideologen des Dritten Reiches wird 1945 der schweizer Pass aberkannt - die rassistisch-eugenischen Psychiater wirken weiterhin und werden z.T. schweizer Professoren]

Nach dem Sieg der Alliierten war in der Schweiz die Empörung über Hitler und sein Gefolge gross.

[[Dies war der öffentliche Tenor in der "neutralen" schweizer Presse. Hinter den Kulissen half die schweizer Oberschicht den Nazi-Grössen in jeglicher Art und Weise bis hin zum Transport von Geldern nach Argentinien in Diplomatenkoffern]].

Mit der Ausbürgerung Ernst Rüdins durch den Bundesrat im Sommer 1945 wurde der öffentlichen Entrüstung über dessen Wirken im Nazireich Rechnung getragen.

   (Endnote 388: Vgl. Keller 1996, Schädelvermesser, S. 241)

[[Diese Handlung war nur Show, denn die Eugenik in der Schweiz selbst wurde bis in die 1970-er Jahre beibehalten!]]

Aktive Teilnahme des im Pensionsalter stehenden Rüdin an den unmittelbar nach Kriegsbeginn 1939 von Hitler befohlenen Massentötungen an psychisch Kranken und körperlich Behinderten ist nicht nachgewiesen. Das besorgten seine Schüler.

   (Endnote 389: Vgl. Mitscherlich / Mielke 1960, Medizin; Klee 1983, "Euthanasie"; Klee 1986, Ärzte; Lifton 1988, Ärzte; Friedlander 1997, Weg)

Doch Rüdin hatte Kenntnis von der Aktion T4, kannte deren Hauptakteure persönlich und äusserte sich 1942 und 1943 zustimmend zur "Euthanasie".

   (Endnote 390: Vgl. Weber 1993, Rüdin; Weber 1995, Rüdin)

Rüdins Ausbürgerung brachte erstaunlicherweise ein Veteran des NS-Ärztebunds, Theobald Lang, ins Rollen. Der Alt-Nazi Lang,

   (Endnote 391: Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz 1996, Rasse, S. 387)

der nach 1945 gegenüber Rüdin als Anti-Nazi auftrat, hatte in der Schweiz als Arzt in einem Flüchtlingslager Gelegenheit zu Forschungen an jüdischen Flüchtlingen erhalten

   (Endnote 392: Lang 1945, Ergebnisse)

und auch eine Arbeit über die Erblichkeit der Homosexualität publiziert.

   (Endnote 393: Lang 1945, Struktur)

Die Austreibung des Sündenbocks Rüdin war einerseits eine längst fällige Distanzierung von seinem verhängnisvollen Wirken, diente aber gleichzeitig als Ablenkung davon, dass viele schweizer Psychiater und Mediziner wie Manfred Bleuler, der Rüdin und seine Schüler wie Luxenburger so eifrig zitiert hatte, weiterhin "erbkranken Nachwuchs verhüten" konnten, dass die "Julius-Klaus-Stiftung" und ihr Präsident auf Lebenszeit Schlaghinhaufen weiterhin in hohem universitärem Ansehen standen, und dass "Eugeniker" wie Zurukzoglu und Hanhart in der Nachkriegszeit zu Universitätsprofessoren avancierten.

(S.96)

[Eheverbote, Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen bis 1970 in der Schweiz - eine "rein ärztliche Angelegenheit" - rassistische Eugenik in Europa und in den "USA" gemäss Ergbesundheitsgesetzen ab 1945 - Bestrebungen der Rassisten-Eugeniker für ein gesamtschweizerisches Sterilisationsgesetz bis 1970]

Obwohl die Zahl der "eugenisch indizierten" Eheverboten, Sterilisationen und Kastrationen nach 1945 sank, wurden sie, jetzt allerdings ohne öffentliche Begleitpropaganda, in den alten Zuständigkeiten still und leise weitergeführt. "Eugenische" Begründungen solcher Operationen sind in Zürich bis ans Ende der Untersuchungsperiode (1890 bis 1970) belegt, und vermutlich würde sich bei der Durchsicht seitheriger Fälle eine noch längere Kontinuität nachweisen lassen. Der Oberarzt der Frauenklinik Graz schrieb 1969 über die Schweiz:

"Heute wird die Sterilisation in diesem Land nach mehreren schweren Geburten und körperlicher Erschöpfung, beim zweiten bzw. dritten Kaiserschnitt, bei Vielgebärenden, chronisch Kranken und Psychopathen sowie bei Frauen in schlechten sozialen Verhältnissen durchgeführt [...], wobei man behördlicherseits den Standpunkt vertritt, dass die Sterilisation aus medizinischen oder eugenischen Gründen eine rein ärztliche Angelegenheit sei."

   (Endnote 394: Heiss 1969, Sterilisation, S. 7)

Die schweizer "Eugeniker" hatten auch nach dem Zusammenbruch des Nazireichs internationale Kontakte. In Skandinavien und den USA wurden "eugenische" Unfruchtbarmachungen auch nach 1945 weiterbetrieben. In Deutschland und Österreich waren nicht nur führende "Erbbiologen" wie Othmar Freiherr von Verschuer oder Friedrich Stumpfl unbehelligt auf ihren Lehrstühlen verblieben. Es gab dort auch Ärzte, Juristen und Politiker, die der Meinung waren, nach 1945 seien durch die westlichen Besatzungsmächte nur die "Erbgesundheitsgerichte" aufgehoben worden, das "Erbgesundheitsgesetz" oder zumindest einzelne Abschnitte davon seien aber nach wie vor in Kraft;

   (Endnote 395: Vgl. Heiss 1969, Sterilisation, S. 25-79)

sie wirkten entsprechend weiter.

Die Kontinuität der schweizer "Eugenik" bestand nicht nur in der Praxis, sondern auch in Theorie und Wissenschaft weit über 1945 hinaus. So verwies der katholische Psychiater Jakob Wyrsch

   (Endnote 396: Vgl. Neiger 1985, Wyrsch)

aus der Innerschweiz, Professor an der Universität Bern, im Abschnitt über "Sterilisation und Kastration" seines Buches "Gerichtliche Psychiatrie" von 1946 weiterhin auf die "eugenischen Zwecke"

   (Endnote 397: Wyrsch 1946, Psychiatrie, S. 262)

solcher Massnahmen und auf Schriften Luxenburgers, Zurukzoglus und Bruggers.

   (Endnote 398: Wyrsch 1946, Psychiatrie, S. 43)

Dasselbe tut die Dissertation des Juristen Hans-Rudolf Böckli von 1954, die er als Vorarbeit für ein gesamtschweizerisches Sterilisationsgesetz verstand; von dessen Legiferierung erhoffte er sich "für das eugenische Gedankengut ein unmittelbares Eindringen in die allgemeine Gesetzgebung" statt wie bisher nur über Art. 97 ZGB. Er stiess aber auf den Widerstand derjenigen, die lieber ohne Gesetz und [[ohne]] allzuviel Öffentlichkeit sterilisierten:

"Die Ansichten darüber, ob es zweckmässig und richtig wäre, den ganzen Fragenkomplex vor der politischen Öffentlichkeit aufzuwerfen, gehen allerdings auseinander."

   (Endnote 399: Böckli 1954, Sterilisation, S. 99; vgl. Noll 1955, Einwilligung, S. 92-97)

[Linke schweizer Politik befürwortet ebenfalls rassistische Eugenik nach 1945 - feministisch-biologische Eugenik (Brupbacher: Abtreibung als Verhütung von "kranken" Menschen) contra männlich-patriarchale Eugenik (Glaus: Zwangssterilisation als Verhütung von Abtreibungen) nach 1945]

Das Spektrum der "Eugenik"-Anhängerschaft der Nachkriegszeit reichte, wie schon vor dem Krieg,

   (Endnote 400: Bgl. Spinner 1920, Fruchtabtreibung, S. 41)

auch weit ins linke Lager hinüber. Die Ärztin und Frau des anarcho-kommunistischen Arztes, Politikers und Schriftstellers Fritz Brupbacher, Paulette Brupbacher, war in Zürich 20 Jahre lang Mitglied einer "Kreiskommission der Armenpflege" gewesen, wo "neben einigen wenigen verknöcherten Bürokraten" ein "sozial

(S.97)

gesunder, menschenfreundlicher Geist" anzutreffen gewesen sei.

   (Endnote 401: Brupbacher 1953, Patientinnen, S. 152-153)

In ihrem Rückblick auf ihr Arbeitsleben als Ärztin und auf ihr Engagement für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs auf Wunsch der Frau publizierte sie 1953 ein Kapitel "Über die eugenische Indikation". Neben ihrem Wunsch, alle nur möglichen Argumente gegen das Abtreibungsverbot anzuführen, sind darin auch Übereinstimmungen mit den Argumentationen Paul Pflügers oder Robert Schneiders unverkennbar. Sie schrieb:

Ohne "eugenische" Indikation würde "der Gemeinschaft die Erhaltung körperlich oder geistig unbrauchbarer, lebensuntauglicher Elemente zugemutet, die, nirgends eingereiht, ihr nutz- und freudloses Dasein in Heimen verdämmern."

   (Endnote 402: Brupbacher 1953, Patientinnen, S. 232)

Als weibliche Befürworterin des legalen ärztlichen Schwangerschaftsabbruchs auf Wunsch der Schwangeren war Paulette Brupbacher dem innersten Zirkel der männlichen ärztlichen "Eugeniker" jedoch auch nicht genehm. Umgekehrt scheint es, als ob sie gar nicht bemerkt habe, wie leicht es diesen Ärzten gerade ein Zürich fiel, "eugenische" Indikationen auch bei Schwangerschaftsabbrüchen umzusetzen. Kamen aber solche Vorschläge von ihr, scheint sie auf Widerstand gestossen zu sein. Sie schreibt:

"Ein notorischer Trinker hatte drei Kinder, von denen das erste in einem Heim für Idioten untergebracht war. Von den beiden anderen war der Bub von unterdurchschnittlicher Begabung, das Mädchen [...] debil [...]. Dieses debile Mädchen wurde von ihrem Zwillingsbruder geschwängert, und die Poliklinik, die ein Zeugnis zur legalen Unterbrechung der Schwangerschaft ausstellen sollte, musste den Fall abweisen, weil im Gesetz keine eugenische Indikation erwähnt wird!"

   (Endnote 403: Brupbacher 1953, Patientinnen, S. 234)

So zeigt sich ein Gegensatz. Auf der einen Seite focht eine gewissermassen feministisch-biologistische "Eugenik" beim Kampf um die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs auf Wunsch der Frau auch mit dem Argument der Verhütung "unbrauchbarer Elemente".Die männlich-patriarchale "Eugenik" hingegen wollte die restriktive Regelung des Schwangerschaftsunterbruchs beibehalten, und zwar gerade auch als Druckmittel für Sterilisationen mit Zwangscharakter. Auch diese Linie reicht bis weit in die Nachkriegszeit. So stellen noch 1948 Charlot Strasser

   (Endnote 404: vgl. Strasser 1948, Arzt)

oder Professor Alfred Glaus, Leiter der psychiatrischen Poliklinik (1932-1957) in seinem Buch von 1962 "Über Schwangerschaftsunterbrechung und deren Verhütung" mit dem Untertitel "Zum Problem der psychiatrisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechung gemäss Art. 120 StGB sowie sterilisierender Operationen bei Mann und Frau im Sinne einer Interruptionsprophylaxe und geplanter Elternschaft" die Sterilisation als Verhütung von Abtreibungen dar.

In diesem Umfeld hatte es der feministische Standpunkt, der Schwangerschaftsabbruch solle in erster Linie ein Entscheid der Schwangeren selbst sein, entsprechend schwer. Dessen luzide Begründung 1958 durch Iris von Roten im Kapitel "Entrechtung bis in die Eingeweide" ihres Buches "Frauen im Laufgitter" wurde, wie ihr ganzes Werk und auch ihre Person, krass angefeindet.

   (Endnote 405: vgl. Roten 1991, Laufgitter, S. 334 ff.; Joris 1991, Nachwort)

Die Forderung nach legalem Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der Frau blieb aber bis heute ein Postulat vieler Frauenorganisationen.

(S.98)

Auf die heutigen weltweiten Tendenzen von Zwangssterilisationsprogrammen einerseits, das ebenfalls weltweite Fortbestehen von Abtreibungsverboten andererseits bezogen, bringt der Titel des Buchs von Karin Kozuch die Zwangslage vieler Frauen auf den Punkt: "Zwischen Gebärzwang und Zwangssterilisation".

   (Endnote 406: Kozuch 1999, Gebärzwang)

[Die Verfolgung von Abtreibungsärzten - die legale Arbeit von Sterilisierungsärzten und Kastrierungsärzten]

Schweizer Ärzte, auch in Zürich, welche in eigener Kompetenz Schwangerschaftsabbrüche auf Wunsch von Frauen in Fällen vornahmen, bei denen abzusehen war, dass das Begutachtungsverfahren in der Ablehnung des Abbruchswunsches respektive dessen Gestattung nur in Verbindung mit einer Sterilisation ergeben würde, hatten mit scharfer strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen - im Unterschied zu sterilisierenden und kastrierenden Medizinpersonen. Das Verfahren und mehrere Fälle schildert der Zürcher "Eugeniker" und Rechtsprofessor Erwin Frey in seinem Aufsatz "Die Papiere des abtreibungsverdächtigen Arztes".

   (Endnote 407: Frey 1957, Papiere)

[ab 1945: CH-Ärzte werten weiterhin nach rassistisch-eugenischen Theorien - CH-Rassisten-Eugeniker machen weiter Karriere an schweizer Universitäten, und die dummen CH-Studenten machen bis 1972 mit...]

Alfred Glaus sah sein Wirken als Fortsetzung der von Maier und Binder vorgespurten und von Manfred Bleuler fortgeführten Zürcher Praxis, die auch noch unter Hans Kind als Leiter der psychiatrischen Poliklinik Zürich in Kraft blieb. Die Poliklinik war weiterhin der Schwerpunkt für Gutachten betreffend Ehefähigkeit, Schwangerschaftsfähigkeit und somit auch betreffend Sterilisationen. Glaus betreute auch zwei Zürcher Dissertationen über die Nachwirkungen der Sterilisation auf die Operierten.

   (Endnote 408: Holenstein 1952, Nachuntersuchungen; Hoppeler 1954, Nachuntersuchungen)

Obzwar Professor Glaus die Ärzte nicht als "Eugenetiker, [...] Kriminal- oder Sozialbeamte"

   (Endnote 409: Glaus 1962, Schwangerschaftsunterbrechungen, S. 14)

sehen wollte, berücksichtigte er als beamteter Arzt noch nach 1945 "gelegentlich auch das eugenische Moment in gewissen Grenzfällen" des Schwangerschaftsabbruchs,

   (Endnote 410: Glaus 1962, Schwangerschaftsunterbrechungen, S. 104)

in denen nach der Neufassung des Art. 120 StGB aus dem Jahr 1942 die "eugenische" Indikation ausdrücklich nicht zugelassen war. Auch in den von ihm referierten Fallgeschichten von Sterilisationen - einige davon stammen aus den Arbeiten von Hinderer

   (Endnote 411: Hinderer 1947, Sterilisation)

und Amstein

   (Endnote 412: Amstein 1953, Verlauf)

- figurieren "eugenische Gründe".

   (Endnote 413: Glaus 1962, Schwangerschaftsunterbrechungen, S. 82, S. 86)

Glaus überliefert eine weitere Facette zum Zwangscharakter der "Einwilligung" zur Unfruchtbarmachung mit folgender Formulierung eines Sterilisierten:

"Heute müsse er schon sagen, er habe seine Zustimmung nicht leicht und 'freiwillig', sondern nach Überwindung schwerwiegender Bedenken unter dem Druck einer äusseren Situation gegeben. [...] Er sei sich [...] schon etwas 'erpresst' vorgekommen."

   (Endnote 414: Glaus 1962, Schwangerschaftsunterbrechungen, S. 77)

Glaus berichtet auch von Sterilisationen bei Diagnosen wie "taubstumm; psychisch gesund" und "debiler Epileptiker".

   (Endnote 415: Glaus 1962, Schwangerschaftsunterbrechungen, S. 70, S. 81)

Schweizer Eugeniker sassen nach 1945 weiterhin unangefochten auf ihren Lehrstühlen und forschten in den alten Geleisen weiter. Besonders aktiv blieb Ernst Hanhart, der vormalige Mitherausgeber des Nazi-Standardwerks "Handbuch der Erbbiologie des Menschen".

   (Endnote 416: Just 1939-1940, Erbbiologie)

Längst zum Universitätsprofessor in Zürich arriviert, erforschte Hanhart weiterhin die "Erbbiologie" von Gehörlosen

   (Endnote 417: vgl. Hanharts bereits erwähnte Kartothek der Gehörlosen einer Walliser Gemeinde, fortgeführt bis 1965)

und von "Mongoloiden"

   (Endnote 418: Hanhart 1960, Mongoloidismus)

sowie noch 1972 die Erfolge von "eugenischen Beratungen".

   (Endnote 419: Hanhart 1972, Nachprüfung)

Seine Studenten durchsuchten die Bevölkerung von Bergdörfern nach verdächtigen "Sippen".

   (Endnote 420: Gysi 1951, Bestandesaufnahme; Wieser 1952, Bestandesaufnahme)

(S.99)

[Die offizielle "Wissenschaft" verweigert die Forschung nach Erbschäden durch Radioaktivität - nur die alternative Forschung forscht über Genschäden]

Während "eugenisch" orientierte "erbbiologische" Argumentationen in der Schweiz auch nach 1945 an Hochschulen gelehrt und in der medizinischen und fürsorgerischen Praxis als Begründungen dienten, wurden einige neue Quellen von Erbschäden kaum oder nur von alternativen Aussenseitern erforscht. So etwa die Gefahren aus Radioaktivität, ausgehend von nuklearen Medizintechnologien wie Röntgenbestrahlung oder der weltweit ansteigenden Strahlungsintensität durch Atombombenabwürfe, Atomtests, Betrieb und Unfälle von Atomkraftwerken.

Ähnliches gilt von den Erbschäden durch neue Substanzen wie PCB und andere Chemieprodukte in immer grösserer Zahl und unübersichtlicherer Produktevielfalt.

   (Endnote 421: Vgl. Biedermann 1984, Biozid-Report)

Die schweizer  Erbbiologen zitierten weiterhin Grössen der Naziforschung und forschten in den alten "eugenisch" vorgespurten Bahnen weiter, bis es zu genetischen und gentechnischen Neuansätzen der Forschungen betreffend Erblichkeit und Erbsubstanz kam. Aber auch die Analyse der Risiken dieser neuen Forschung, etwa die Folgen der Verbreitung von genmanipulierten oder über früheren Artenschranken hinweg verbreiteten Krankheitserregern wie Chlamydien, Bakterien, Viren oder Prionen, speziell auch durch deren absichtliche oder versehentliche Implantierung in menschliche Zellen aus Organen, Tumoren oder Embryonen, bleibt alternativen Forschern ohne grosse Geldmittel überlassen. Dies, obwohl die unabsehbaren Möglichkeiten der neueren Medizintechnologien und die Perspektiven der Gentechnik die ethische Problematik der "Eugenik" um zahlreiche neue Aspekte vor dem alten Hintergrund erweitern.

   (Endnote 422: Vgl. Habermas 2001, Zukunft)

Auch "Euthanasie" blieb in der Schweiz nach 1945 ein Thema. Fritz Hauser distanzierte sich in seiner juristischen Zürcher Dissertation von 1952 von den Krankenmorden im Dritten Reich, erwähnt aber die Berner "Euthanasie"-Debatte von 1923 nicht. Hauser plädierte für "Euthanasie" im Sinne von "Sterbehilfe" an Schwerkranken, wie sie in jüngerer Zeit "Exit" und ähnliche Vereine mit wachsender Anhängerschaft unter Ärzten und Politikern propagieren und praktizieren.

   (Endnote 423: Hauser 1952, Euthanasie; vgl. auch Schwank / Spöndlin 2001, Recht)

(S.100)

[[Ergänzung: Diskriminierung in Zürich durch Leistungszwang bis heute - Realschule abgeschafft

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Bevölkerung von Zürich z.T. derart leistungsorientiert ist, dass in gewissen Quartieren wie Zürich-Witikon die Realschule abgeschafft wurde. Mittelstufenschüler der unteren Schulstufe soll es in solchen Quartieren nicht mehr geben, und Realschüler von Zürich-Witikon müssen weit in andere Quartiere fahren, um eine Realschule zu besuchen und sind somit vom gesamten Quartier ausgegrenzt. Diese Diskriminierung durch Schulleistungen in Zürich hält bis heute an (2008) und ist legal...]].

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Quellen
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 58
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                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 59
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                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 75
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                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 76
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                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 77
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          78
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 78
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          79
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 79
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          80
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 80
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          81
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 81
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          82
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 82
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          83
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 83
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          84
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 84
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          85
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 85
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          86
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 86
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          87
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 87
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          88
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 88
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          89
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 89
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          90
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 90
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          91
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 91
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          92
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 92
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          93
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 93
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 94
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
                          95
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 95
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 96
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 97
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 98
Thomas Huonker:
                          "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970;
                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 99
Thomas Huonker:
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                          Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S.
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Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002, S. 100



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