Das Virus Sars-Cov-2 ist allen bisherigen Erkenntnissen zufolge „weniger gefährlich als gemeinhin vermutet“. Das hat der Schweizer Arzt und Infektiologe Pietro Vernazza gegenüber der Schweizer „Sonntagszeitung“ gesagt. Er wendet sich zugleich gegen eine Strategie mit dauerhafter Maskenpflicht und anhaltenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens, bis es einen Impfstoff gegen das Virus Sars-Cov-2 gibt.
Vernazza spricht sich für Alternativen zur „Ausrottungsstrategie“ der Schweizer Regierung, des Bundesrates, aus. Die Schweizer Behörden reagierten ähnlich wie die anderen Länder auf die Covid-19-Pandemie. Diese war am 11. März von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufen worden. Covid-19 ist die laut WHO vom Virus Sars-Cov-2 ausgelöste Krankheit.Der Schweizer Bundesrat hatte am 16. März die „außerordentliche Lage“ gemäß Epidemiengesetz erklärt und damit den sogenannten Lockdown des gesellschaftlichen Lebens eingeleitet. Ab 11. Mai wurden einzelne Maßnahmen schrittweise gelockert. Mit den Beschränkungen des öffentlichen Lebens und Maßnahmen wie der Maskenpflicht soll das Virus eingedämmt werden. Sie werden mit Lockerungen aufrechterhalten, obwohl die Zahl der gemeldeten Infektionen seit Wochen deutlich gesunken ist.
Mit dem Virus leben
Vernazza erinnert in dem Interview daran, dass Corona-Viren seit Jahren weltweit unter den Menschen verbreitet sind und nicht verschwinden: „Wir müssen lernen, mit dem neuen Virus zu leben.“ Auf die Frage der Journalisten, ob deshalb jahrelanges Maskentragen, Abstandhalten und Verzicht auf Großveranstaltungen wie Konzerte notwendig sind, antwortet der Arzt: „Das ist Ihre Schlussfolgerung, nicht meine.“
Der Mediziner ist Professor und Chefarzt in der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen sowie international anerkannter Spezialist für HIV. Aus seiner Sicht folgen die Maßnahmen der Behörden der „Vision, dass es irgendwann einmal eine Impfung gibt, mit der man die Ausbreitung des Virus vollständig verhindern kann“. Dieses übertriebene Ziel setze voraus, „dass man jeder möglichen Infektion nachgeht und Menschen in Quarantäne setzt, bis es einen brauchbaren Impfstoff gibt“.Er hält es für möglich, dass es in einem Jahr eine massentaugliche Impfung geben könne. Die sei aber nur sinnvoll, wenn ein Großteil der Bevölkerung sich impfen lässt, nicht allein gefährdete Personen wie ältere Menschen. Die Wahrscheinlichkeit sei „sehr groß, dass die Impfung gerade bei älteren Menschen kaum nützt“, so Vernazza. Statt einer Massenimpfung schlägt er vor, „die Schutzmaßnahmen in der breiten Bevölkerung zu reduzieren, damit die junge Bevölkerung nach und nach mit dem Virus in Kontakt kommt. Den älteren Menschen sollte man die Möglichkeit geben, sich besser zu schützen.“
Für viele Menschen kein Problem
Der Mediziner verweist auf Studien aus verschiedenen Ländern, nach denen bis zu zehnmal mehr Menschen mit dem Virus angesteckt wurden, als tatsächlich diagnostiziert wurden. Es sei sehr schwierig, „alle Infizierten aufzuspüren und abzuschotten“.
Zudem habe sich gezeigt, „dass viel mehr Menschen, als man bis jetzt dachte, mit dem Virus problemlos umgehen können“.
Das Wissen über die Krankheit Covid-19 sei heute größer als zu Beginn der Pandemie, weshalb der Infektiologe die Strategien dagegen für überdenkenswert hält. Er macht darauf aufmerksam, dass in der Schweiz und anderen Ländern die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus schon vor dem Lockdown rückläufig war. Die Infektionszahlen seien unabhängig von der Art und Weise der Maßnahmen gesunken, stellt Vernazza fest.
Er sieht als mögliche Ursache dafür, dass das Immunsystem der Menschen besser auf das Virus reagiert als vermutet:
„Seit rund zwei Monaten beobachten wir das Phänomen der Kreuzimmunität. Menschen, die gegen andere Coronaviren eine Immunantwort entwickelt haben, erkranken milde oder gar nicht an Covid-19.“
Die anfänglichen Szenarien mit einer großen Zahl Toten in Folge von Covid-19 haben sich laut Vernazza als übertrieben herausgestellt.
„Schweden hat nichts falsch gemacht“
Gefragt nach den weniger massiven Anti-Corona-Maßnahmen in Schweden erklärt er:
„Die Schweden haben nichts falsch gemacht. Ihr Modell wird vor allem von Leuten kritisiert, die ihr eigenes Modell verteidigen müssen. In Schweden gab es ja auch Einschränkungen, und mittlerweile gehen die Todesfallzahlen fast linear zurück. Der Effekt ist deutlich.“
Der Infektiologe findet rückblickend die Schweizer Maßnahmen nicht falsch. Er fordert aber dazu auf, den weiteren Weg angesichts der Kosten der bisherigen Maßnahmen gut zu überdenken: „Wenn wir in ein bis zwei Jahren keinen Impfstoff haben, haben wir Milliarden ausgegeben und das Problem trotzdem nicht gelöst. Wir müssen uns fragen, ob wir dieses Risiko eingehen wollen.“
Vernazza spricht sich dafür aus, alternative Strategien zu prüfen.
„Die neuesten Erkenntnisse zeigen klar, dass in der Schweiz nicht 30.000 bis 100.000 Menschen an Corona sterben werden und dass die Epidemie früher abklingen könnte als bisher angenommen. Das Virus scheint weniger gefährlich als gemeinhin vermutet.“
Der Mediziner aus St. Gallen widerspricht dem Vorwurf der Journalisten im Interview, er würde die Situation verharmlosen. Inzwischen sei bekannt, dass 90 Prozent der Infizierten „gar nie diagnostiziert“ worden seien. Das bedeute, dass die Sterblichkeit in Folge von Covid-19 nicht wie bisher angenommen bei einem Prozent oder tiefer lag, sondern „eher bei einem Promille“. Das sei die „Größenordnung der saisonalen Grippe“, stellt Vernazza fest.
Gegen weit verbreiteten Irrglauben
Auf die skeptischen Nachfragen der Journalisten der „Sonntagszeitung“ verweist der Infektiologe auf die bekannten entsprechenden Daten und Erkenntnisse. Wenn sich die Hypothese der Kreuzimmunität bestätige, „dann dürfte auch die Überwindung der Corona-Krise einfacher sein als zunächst angenommen.“ Auf die anscheinend vorhandene Immunität vieler Menschen gegenüber dem neuen Corona-Virus machte wiederholt auch der Schweizer Immunologe Beda Stadler aufmerksam.
Vernazza widerspricht in dem Interview dem „weit verbreiteten Irrglauben“, dass die Grippe für jüngere Menschen harmloser sei als Covid-19. In dieser Altersgruppen gebe es jedes Jahr Tote in Folge der Grippe, obwohl diese für die meisten Menschen harmlos sei. „Bei Covid-19 ist das nicht anders. Aber bei der Grippe publiziert niemand die tragischen Todesfälle bei jungen Menschen oder die Zahl der Todesfälle.“
Der Infektiologe zeigt sich überrascht von der übermäßigen Reaktion auf die Covid-19-Pandemie angesichts der Tatsache, dass die Grippeerkrankungen seit Jahren „sträflich“ vernachlässigt werden. Er habe „von Anfang an eine ruhige Haltung“ für angebracht gehalten, erklärt Vernazza. „Selbst Wissenschaftler machten auf Panik, auch wenn das nicht ihre Absicht war.“
Erfahrungen mit Epidemien als Grundlage
In der Bundesrepublik hatte der Lungenarzt und Epidemiologe Wolfgang Wodarg frühzeitig vor Panikmache mit dem Virus gewarnt; er ruft bis heute zu Besonnenheit im Umgang mit der Pandemie auf. Dafür bezeichneten tonangebende Medien seine Aussagen als „gefährlich“ und diffamierten ihn öffentlich.Wie Wodarg begründet Vernazza seine Sicht mit den Erfahrungen mit anderen Epidemien wie Sars, Rinderwahn, Schweine- und Vogelgrippe. Dabei sei „immer übertrieben“ worden. „Dies ließ mich vorsichtiger werden bei der Interpretation von Szenarien. Auch wenn mir als Infektiologe klar ist, dass virale Infektionskrankheiten gefährlich sein können.“
Der Mediziner war laut der Zeitung im Gespräch für die Task Force, die den Schweizer Bundesrat in der Pandemie berät. Er wisse nicht, warum er doch nicht einbezogen wurde, sagt er dazu. Vernazza vermisst eine Kosten-Nutzen-Rechnung der aktuellen Strategie, die wichtig sei. Eine solche fehlt auch bisher für die Maßnahmen in der Bundesrepublik und wurde nachweislich bisher nicht von der Regierung erstellt.
Gravierende Folgen der Angstmache
In einem aktuellen Blog-Beitrag vom Donnerstag setzt sich der Schweizer Infektiologe mit Informationen über zurückgegangene Notfallbehandlungen wegen Herzinfarkt in Folge der Pandemie auseinander. „Wie groß das Problem der wegen Corona-Angst vermiedenen Arztbesuche war, lässt sich besonders gut beim Herzinfarkt nachweisen.“Eine aktuelle britische Studie zeige, dass Ende März die Zuweisungen mit Herzinfarkt um rund 40 Prozent zurückgingen, wobei der Trend „lange vor dem Lockdown in England“ begonnen habe. „Dies ist ein starkes Indiz, dass es die Angst vor einer Ansteckung war, welche die Menschen die Notaufnahmen meiden ließ.“ Die beobachtete Verschlechterung der Gesundheitsversorgung als Folge der Angst sei „eindrücklich“, so Vernazza. „Das Schüren von Ängsten, wie dies durch Medien und überzeichnete Horrorszenarien erfolgte, kann durchaus auch unbeabsichtigte, negative Konsequenzen haben.“>